Traumfrau (German Edition)
Vögel, doch er konnte jetzt nicht ins Licht sehen. Der entsetzliche Druck tief hinter seinen Augen wurde durch die Helligkeit nur noch schlimmer.
Das Zähneputzen konnte nichts gegen den pelzigen Zungenbelag ausrichten. Weil er zu gierig war, verbrannte er sich an der ersten Tasse Kaffee die Lippen. Das Brot, gestern noch backofenfrisch, mit vollem Geschmack, wurde in seinem Mund zu einem pappigen Brei. Er fand es unmöglich, das Zeug runterzuschlucken. Aus der Hausapotheke holte er sich Aspirin und weil er Aspirin nicht vertragen konnte, nahm er gleich eine Magentablette hinterher.
Die Szenen der letzten Nacht kamen ihm merkwürdig unwirklich vor. Doch der Wohnzimmertisch voller leerer Flaschen und überquellender Aschenbecher bewies, dass das gestrige Saufgelage tatsächlich stattgefunden hatte.
Früher hatte ihm so etwas nichts ausgemacht. Er war geradezu stolz darauf, dass er niemals einen Kater bekam, egal, wie hart die Nacht auch wurde. Aber jetzt musste er sich eingestehen, dass sogar seine Finger zitterten und schwere Fesseln sein Herz zusammenpressten.
Er rieb sich die Schläfen und grübelte darüber nach, ob etwas dran sein konnte an den Geschichten von Martin Schöller. Kinder, die er einmal unterrichtet hatte, blieben für ihn immer Kinder. So sehr er sich auch bemühte, in ihnen die erwachsenen Menschen zu sehen.
Schwer vorstellbar, dass der mittelmäßige Schüler Martin Schöller, den er als schüchtern in Erinnerung hatte, als einen, der immer vor den Draufgängern in der Klasse beschützt werden musste, dass der sich mit käuflichen Mädchen herumtrieb, die Preise kannte, die Tricks und Kniffe und Erfahrungen aufzuweisen hatte mit Frauen aller Hautfarben und Kontinente.
Vermutlich war das alles nur Kino. Wunschdenken. Prahlerei.
Die Anzeigen in den Werbeprospekten der Reiseunternehmen klangen zwar zweideutig, aber was Martin Schöller da alles hinein interpretierte ...
Er selbst wäre nie auf so etwas gekommen.
Den restlichen Abend hatten sie nur noch über die Käuflichkeit von Frauen geredet und alle ihnen bekannten Preise miteinander verglichen.
Als Udo Tiedemann das Haus seiner Eltern an die Leute von außerhalb verpachtete, die daraus einen Privatclub machten, wurde er zum schwarzen Schaf des Dorfes. Viele sagten, er habe das Dorf nur verlassen, weil er es nachher dort nicht mehr ausgehalten hätte. Günther Ichtenhagen glaubte das nicht. Im Gegenteil, gerade weil er es im Dorf nicht mehr aushielt, hatte Udo Tiedemann das Haus seiner Eltern an den Meistbietenden verpachtet, statt, wie üblich, es zunächst innerhalb der Dorfgemeinschaft anzubieten. Es lag günstig an der Hauptverkehrsstraße, die das Dorf in zwei Teile zerschnitt. Wer von Brens nach Weierstadt wollte, musste diese Bundesstraße benutzen. In Weierstadt befand sich die nächste Autobahnauffahrt. Obwohl fast im Wald, lag das Haus also verkehrsmäßig günstig. Es wirkte von außen wie eine Schießbude. Gegen eine rote Laterne vor dem Haus hätte man nichts einzuwenden gehabt. Damit konnte man leben. Jetzt aber wurde das Haus zur Straße hin von mindestens hundert roten und blauen Glühbirnen eingerahmt, die abwechselnd aufleuchteten. Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber, stand die Gaststätte, die die Dorfbewohner besuchten: Die Linde. Die flackernden roten und blauen Lichter waren im Thekenraum durch alle Fenster zu sehen, weil alle Fenster zur Straße hinausgingen.
Täglich zwischen siebzehn Uhr und siebzehn Uhr dreißig kam ein Mercedes mit Frankfurter Kennzeichen, ein 280er SE, ständig auf Hochglanz poliert, und brachte vier Frauen in den Club.
Zwar huschten sie nur vom Parkplatz rasch ins Haus, so dass die Dorfbewohner sie nur für Sekunden zu Gesicht bekamen, doch dass die Frauen zierliche, kleine Asiatinnen waren, wusste jeder. Der Fahrer des Wagens betrat den Club immer zuletzt. Etwa eine halbe Stunde später, gegen achtzehn Uhr, begann dann das Flackern der Lichterkette. Wer eingelassen werden wollte, musste klingeln und wurde erst durch ein Guckloch beobachtet.
Doch noch nie hatte jemand der Dorfbewohner bemerkt, dass ein Kunde abgewiesen worden wäre. Obwohl sie alle von auswärts kamen und im Dorf unbekannt waren, trauten sich nur die wenigsten, direkt vor dem Club zu parken. So kam es, dass neuerdings abends und nachts fremde Autos im Dorf auftauchten, und weil man in den schmalen Straßen nicht gut parken konnte, stellten sie ihre Wagen in Vorgärten ab, die sie für Rasenflächen hielten.
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