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Traumjäger (German Edition)

Traumjäger (German Edition)

Titel: Traumjäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Talbiersky
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Augen für das schneeweiße Haar auf seinem Kopf und dem Kinn. Und doch lag unendliches Wissen in seinem Blick. Vielleicht auch Weisheit. Da bin ich mir jetzt nicht sicher. Ich werde Tom später fragen, was es ist.
    Nachdem er mich dann eine Weile freundlich angelächelt hatte, nickte er mir kurz zu. Und dann nickte ich zurück. Auf das Nicken freute ich mich immer. Es lag so etwas Vornehmes darin. Ich weiß nicht, ob es bei mir auch so elegant aussah wie bei dem alten Mann. Vermutlich nicht.
    Manchmal ging ich extra ein wenig langsamer, damit er mir auch wirklich zunicken konnte. Niemand, den ich sonst kannte, nickte einfach nur zur Begrüßung.
    Gesprochen haben wir nie miteinander. Das war nicht nötig. Weder er noch ich fanden das. Vielleicht wusste selbst er damals noch nicht, was uns einmal verbinden würde. Obwohl – ich glaube, dass er es gespürt haben muss. Aber um sicher zu gehen, werde ich Tom auch danach fragen.

    Aber ich war ja gerade dabei zu erzählen, dass ich früher niemanden hatte, der mir zuhören wollte. Es war nämlich so, dass ich keine Freunde hatte. Jetzt habe ich natürlich Tom, aber wir befinden uns ja noch ganz am Anfang der Geschichte. Und da hatte ich keine Freunde. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Ich konnte es den anderen nicht einmal verübeln: Für mein Alter bin ich viel zu klein und zu schmächtig. Die anderen Jungen aus meiner Klasse überragen mich alle mindestens um einen Kopf. Selbst die Mädchen sind größer als ich. Bis auf Kati Meier vielleicht... Mein Haar ist blond und struppig. Wenn ich lese verschwindet mein Gesicht zur Hälfte hinter einer großen Brille – da ich wirklich viel und gerne lese, ist dies beinahe ein Dauerzustand.
    Jetzt, nachdem ich weiß, dass ich etwas Besonderes bin, stört mich das alles nicht mehr. Aber ich muss zugeben, es gab viele Tage, an denen es mich bekümmerte. Ich war nicht unbedingt ein glücklicher Junge. Aber ihr müsst nicht denken, dass ich ganz und gar unglücklich war. Das, was ich oben gesagt habe, ist nämlich nicht ganz wahr. Ich hatte Freunde. Freunde, zu denen ich flüchten konnte, und die mich nie im Stich ließen: meine Träume! Ich brauchte bloß zu rufen, und sie kamen.

    Doch mir war damals noch nicht bewusst, dass die Träume auch mich hatten – und dass ich kam, wenn sie riefen.

Kapitel 2

    Die Orange

    E s geschah an einem Freitagvormittag. Es war einer jener warmen Herbsttage, an denen man ohne Jacke draußen herumlaufen kann. Die grauen Wolken jagten die weißen auf dem klaren Blau des Himmels. Ich erreichte die Schule noch vor Unterrichtsbeginn. Auf dem Schulhof spielten meine Mitschüler. Sie lachten, rannten herum oder tauschten den neusten Klatsch aus. Ich rannte nicht herum, und tratschen mochte ich eh nicht.
    Es war der Tag vor den Herbstferien, und die Bäume schüttelten ihr buntes Laub von den Ästen. Sanft ließ der Wind die Blätter zu Boden gleiten. Ich konnte nie verstehen, warum die anderen achtlos auf den zarten Blättern herumtrampelten. Für mich waren sie so wertvoll. Behutsam bahnte ich mir den Weg um sie herum und hob nur gelegentlich einmal ein besonders schönes rotes oder gelbes Blatt auf, um es in meinen Büchern zu pressen. Das machte ich nämlich manchmal.
    Ich öffnete die große Schultür und ging den leeren Gang hinunter zu meinem Klassenzimmer. Mein Platz war in der letzten Reihe, ganz hinten in der linken Ecke. Das war mir recht. Von hier aus hatte ich nämlich einen prima Blick aus dem Fenster.
    Nach dem Schellen füllte sich der Raum. Mein Mitschüler, Carsten Selmholz, setzte sich wie immer auf den Platz direkt vor mir. Er hatte so breite Schultern, dass ich mich bequem hinter ihm verstecken konnte, wenn ich den Blicken der Lehrer ausweichen wollte, was nicht selten vorkam.
    Zuletzt betrat Frau Schönlein das Klassenzimmer und schloss die Tür hinter sich. Frau Schönlein ist meine Geschichtslehrerin. Das, was ich zu Frau Schönlein sagen kann, ist, dass alles an ihr dünn ist. Ihre Arme, ihre Beine, ihr langes Haar, die Nase – sogar ihre Stimme, wenn sie uns irgendetwas über die alten Römer erzählte. Und sie erzählte fast immer über die alten Römer. Auch an diesem Tag.
    Vor mir lag das geliehene Geschichtsbuch, und ich versuchte, die ihm achtlos zugefügten Eselsohren glattzustreichen. Dabei fiel mein Blick auf ein kleines Foto, das in dem Buch abgebildet war. Es zeigte das Kolosseum in Rom. Habt ihr das schon einmal gesehen? Es sieht wirklich toll aus. Ganz

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