Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
zitternden Hände und zeichnen sich deutlich auf ihren Klamotten ab. Hailey schließt die Augen und versucht, tief Luft zu holen. Zunächst ist ihr Atem stockend, immer wieder unterbrochen von heftigen Schluchzern. Dann endlich löst sich der Schmerz in ihrer Brust auf und verwandelt sich in rasende Wut. Der Hass auf Eleonore brennt heißer als jeder Verlust. Ihre eigene Mutter hat sie einfach gehen lassen. Ohne Widerstand. Als wäre Hailey nichts wert. Als würde sie ihre Tochter nicht lieben.
Doch so schnell dieser Hass aufgewallt ist, so schnell verebbt er auch wieder. Hailey fühlt sich plötzlich nur noch ausgebrannt und leer. Nicht wütend, nicht traurig, nicht einsam. Einfach nur leer.
Sie spürt, wie der Wagen anhält. Die Tür wird aufgerissen und viel zu helles Licht fällt ins Wageninnere. Hailey hält sich die Hände vor die Augen und blinzelt benommen. Kurz darauf wird sie von kräftigen Händen gepackt und nach draußen gezerrt.
»Hier entlang.«
Die Stimme ist Hailey fremd. Sie sieht sich suchend nach den beiden Wächtern um, die sie von zu Hause fortgebracht haben. Sie sind nicht da. Als sie den Mann, der sie grob vor sich her stößt, anschauen will, schlägt er ihr auf den Kopf.
»Nicht gaffen, weiterlaufen.«
Seine Stimme ist hart und kalt. Sofort sehnt sich Hailey nach Harry und seinem Kollegen. Die beiden hätten sie nie geschlagen. Ihr Schädel brummt und vor lauter Angst wagt sie es nicht einmal, die Umgebung zu betrachten. Ihr Blick ist starr auf den weißen Fußboden gerichtet. Ihre Füße stecken in schwarzen Sportschuhen und bilden einen harten Kontrast zu den hellen Fließen unter ihnen.
Tap Tap Tap.
Sie spürt, dass ihre Kräfte schwinden und Erschöpfung sich breitmacht. Ihre Knie zittern und sie kann sich kaum noch aufrecht halten. Allein die Hand des Wächters zwingt sie, gerade zu gehen.
»Wir bringen Sie zunächst in ein Zimmer. In circa einer Stunde können Sie dann in ihr endgültiges Quartier umziehen.«
Hailey erzittert, als ihr klar wird, was diese Worte bedeuten: In diesem Moment wartet jemand auf seinen Tod und sie wird sein Zimmer bekommen. Ihr wird kotzübel und sie übergibt sich auf den blankgeputzten Boden. Sofort ist ihr dieser Schwächeanfall peinlich, doch der Wächter hat scheinbar keine Notiz davon genommen. Ungerührt schiebt er sie weiter.
»Halle 3, aufwischen.«
Ein unangenehmes Rauschen dringt aus dem Gerät, in welches er die Anweisung gesprochen hat.
»Verstanden«, erwidert eine undeutliche Stimme.
»Hier, bitte sehr. Ihr Übergangszimmer.«
Eine Tür wird geöffnet und Hailey hineingestoßen. Das Metall hinter ihr fällt ins Schloss. Sie ist allein.
Der Raum ist sehr spärlich eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch und ein dazugehöriger Stuhl. Alles in Weiß und am Boden verschraubt. Hailey lässt sich seufzend auf den Boden sinken und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie würde gerne weinen, doch ihre Augen brennen und es sind keine Tränen mehr übrig. Sie fühlt sich verbraucht. Als hätte sie ihr Leben längst gelebt und könnte nun sterben.
Ihr Atem ist regelmäßig und ihr Herzschlag langsam. Sie zittert nicht und spürt keinen Schmerz mehr. Einzig ihre Augäpfel fühlen sich an, als würde sie jemand in der Hand halten und langsam zudrücken.
Stöhnend reibt sie mit ihren Fingern über Schläfen und Augenlider, doch das Pochen und Jucken hält sich hartnäckig. Schließlich gibt sie auf und legt den Kopf in den Nacken.
Vor der Tür hört sie eilige Schritte, aber niemand kommt zu ihr. Dankbar schließt sie die Augen und versucht, zu vergessen.
Währenddessen streicht ihr Daumen unaufhörlich über das raue Holz des Bilderrahmens.
»Macy«, murmelt sie und sie setzt sich ruckartig kerzengerade auf. Obwohl ihr Zeitgefühl nie wirklich das Beste war, spürt sie, dass Macy in diesem Moment vor ihrem Haus steht und wie jeden Schultag auf sie wartet. Sie wird sich wundern, wo ihre beste Freundin steckt. Vielleicht wird sie auch ein wenig sauer sein, weil Hailey ihr nicht gesagt hat, dass sie krank ist. Und ganz sicher wird sie enttäuscht sein, dass sie ihr nicht von ihrem Date mit Jules berichten kann.
Möglicherweise klingelt sie gerade, doch Eleonore wird nicht an die Sprechanlage gehen oder das blonde Mädchen gar hinein lassen.
Hailey bekommt ein schlechtes Gewissen, dass sie ihrer Freundin nicht eine Nachricht hat zukommen lassen. Allerdings fällt ihr keine Möglichkeit ein, wie sie das hätte bewerkstelligen sollen. Ein
Weitere Kostenlose Bücher