Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Selbstbewusstsein und Vertrauen vernichteten.
Eine Ohrfeige, als Hailey mal wieder eine Nacht nicht träumte. All das.
Zitternd holt Hailey Luft und schließt dabei die Augen. Ihr Herz rast und ihr Brustkorb schmerzt. Dennoch öffnet sie die Badezimmertür und begegnet den Wächtern als stolze junge Frau.
»Mein Koffer steht in meinem Zimmer«, sagt sie und möchte sich zwischen ihnen hindurchdrängeln, doch sie weichen nicht aus.
»Den benötigen Sie nicht.«
»Oh doch.«
»Nein.«
Haileys erster Gedanke gilt dem Foto von Macy und ihr.
"Ich brauche diesen Koffer."
"Wir haben in der Klinik alles, was Sie benötigen."
"Auch das Foto von meiner Freundin und mir?", bricht es aus ihr hervor, ehe sie sich stoppen kann. Schnell beißt sie sich auf die Unterlippe und verflucht ihr vorlautes Mundwerk.
Der junge Wächter mit aschblonden Haaren zieht überrascht eine Augenbraue nach oben. Da die Wächter meistens mit skrupellosen Schwerverbrechern arbeiten, überrascht ihn die Emotionalität und Ehrlichkeit des Mädchens. Hailey sieht die Verblüffung deutlich in seinen grünbräunlichen Augen.
»Lass sie doch, Harry«, flüstert er seinem Kollegen zu und dieser runzelt missmutig die Stirn.
»Nur das Foto«, brummt er und Hailey eilt dankbar in ihr Zimmer, reißt den Koffer auf und drückt das Foto in seinem weißen Holzrahmen an sich.
»Uns wurde gesagt, dass Ihre Mutter sich ebenfalls hier aufhält, um die Papiere zu unterschreiben? Immerhin sind Sie minderjährig und –«
»Sie ist nicht da«, unterbricht Hailey ihn scheinbar unbewegt und weicht dem mitleidigen Blick des jungen Wächters aus. Doch sie senkt nicht ihren Kopf, sondern blickt erhobenen Hauptes an die Wand.
»Nun dann ... werde ich Ihrer Mutter eine Notiz hinterlassen. Ich nehme an, dass sie über die Ereignisse informiert ist?«, fragt er prüfend nach und macht Hailey deutlich, dass er ihr nicht über den Weg traut.
»Ja, das ist sie«, erwidert Hailey eisig und verengt ihre Augen zu schmalen Schlitzen. »Aber es ist ihr schlicht und ergreifend egal.«
»Das stimmt nicht.«
Eine verhaltene Stimme dringt durch den Gang und lässt die Drei herumfahren. Eleonore steht im Flur, ein blasses Abbild ihrer selbst. Hängende Schultern, glanzlose Haare. Sie wirkt, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen: Tiefe Augenringe und Falten zerfurchen ihr Gesicht und lassen sie zehn Jahre älter wirken.
»Mama...?«, piepst Hailey überrascht und ihr Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.
Eleonore schenkt ihrer Tochter keine Beachtung, sondern geht vorsichtig auf die Wächter zu.
»Welche Papiere?«
Harrys Stirnrunzeln vertieft sich, aber er hält der Frau wortlos Papier und Stift entgegen. Sie unterschreibt, ohne sich das Ganze anzusehen. Der Stift kratzt über das weiße Papier und besiegelt Haileys Schicksal.
»Mama?«, wiederholt Hailey, dieses Mal kräftiger. Eleonore zuckt zusammen, doch sie hält den Blick starr auf den Boden gerichtet.
»Benötigen Sie sonst noch etwas?«
»Nein, das war alles. Vielen Dank.«
Eleonore nickt, dreht sich um und geht. Ihre Tochter bleibt fassungslos zurück, eine Hand zur Faust geballt. Mit der anderen umklammert sie den Fotorahmen so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.
»Du kannst mich nicht einfach so gehen lassen! Verabschiede dich von mir!«, schreit sie ihrer Mutter nach. Diese zieht lediglich den Kopf weiter zwischen die Schultern und beschleunigt ihren Schritt.
»Ich habe keine Tochter mehr«, flüstert sie und schlägt ihre Schlafzimmertür zu.
Hailey jagt ein kalter Schauer über den Rücken. Sie wendet sich ab und senkt den Kopf. Der junge Wächter blickt hilflos drein, findet aber bald seine Fassung wieder.
»Dann kommen Sie nun bitte mit uns«, sagt er bestimmt und nimmt die Gefangene am Arm. Hailey lässt sich wortlos abführen, das Foto eng an ihre Brust gedrückt.
Schweigend betreten sie den Aufzug und fahren nach unten, während Hailey krampfhaft versucht, die Tränen zurückzuhalten. Erst als sie auf der Rückbank des Wächter-Autos sitzt, stützt sie ihren Kopf in die Hände und fängt hemmungslos zu schluchzen an. Anstatt Mitleid zu zeigen, betätigt Harry einen Knopf und lässt eine blickdichte Trennwand nach oben fahren, so dass Hailey mit ihrer Trauer allein ist. Durch die verspiegelten Scheiben kann sie nicht nach außen sehen, nur diffuses Licht dringt zu hier herein. In ihrem ganzen Leben hat sie sich noch nie so einsam gefühlt. Tränen und Rotz bedecken ihre
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