Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Handy durfte sie nie besitzen, einen Brief konnte sie in dieser kurzen Zeit nicht abschicken und eine geheime Nachricht hätte in falsche Hände geraten können.
Es scheint, als habe Eleonore stets auf diesen Tag hingearbeitet. Alle werden sich die größte Mühe geben, nie wieder ein Wort über Hailey zu verlieren.
Als sie in der siebten Klasse gewesen war, wurde eine Lehrerin von den Wächtern verhaftet. Niemand durfte darüber sprechen oder gar ihren Namen erwähnen. Tatsächlich hatten die Kinder sie schnell vergessen. Genau so wollte es die Regierung. Auch Haileys Sachen werden mitgenommen und verbrannt. Niemand wird Widerstand leisten, denn ihr Vater hat sie schon vor langer Zeit verlassen und Eleonore wird den Entsorgern dankbar sein, dass sie ihre Last mitnehmen und vernichten.
»Macy«, flüstert Hailey erneut. Ihre Stimme ist brüchig von den unzähligen Schluchzern der vergangenen Stunden.
Ein leises Grummeln klingt durch den Raum. Ihr Magen. Erst jetzt wird Hailey klar, dass sie seit dem Pausenbrot gestern nichts mehr zu sich genommen hat. Merkwürdigerweise verspürte sie bis zu diesem Augenblick auch keinen Hunger. Zu viele andere Dinge hatten sie abgelenkt, doch jetzt krampft sich ihr Bauch schmerzhaft zusammen. Essen.
Sie steht auf und klopft zaghaft gegen die Metalltür.
»Hallo?«
Stille.
»Hallo?«, wiederholt sie. Dieses Mal lauter und bestimmter. Ihre Kehle ist ausgedörrt und lechzt nach Wasser.
Tatsächlich nähern sich Schritte und kurze Zeit später muss sie zurückspringen, damit die Tür sie nicht erwischt.
»Ja?«
Eine junge Frau sieht sie fragend an. Ihre blonden Haare sind zu einem strengen Zopf zurückgebunden und sie trägt eine weiße Krankenschwester-Uniform.
»Ich habe Hunger«, flüstert Hailey eingeschüchtert. Die mausgrauen Augen der Krankenschwester verengen sich misstrauisch.
»Es gab doch erst Frühstück.«
»Ich bin neu...«
Hailey ist nicht sonderlich überrascht, dass die Angestellten sich nicht die Gesichter der Verbrecher merken.
»Ich werde das überprüfen und dann vielleicht was bringen.«
Die Tür fällt wieder ins Schloss, aber Hailey ist erleichtert. Immerhin hat sie nicht gelogen, weshalb ihr die Schwester Essen und Trinken bringen wird. In Erwartung der Nahrung brummt ihr Magen freudig auf.
Die Minuten vergehen und Hailey beginnt schon daran zu zweifeln, ob ihre Einschätzung richtig war. Doch dann öffnet sich die Tür und ein Tablett wird wortlos abgestellt. Mit schnellen Schritten hat Hailey es erreicht und stürzt das Glas Wasser hastig herunter. Danach beißt sie in das trockene Brot. Es schmeckt nicht sonderlich gut, aber das ist ihrem Hunger egal. In wenigen Augenblicken ist das abgenutzte Brett leer und ihr Magen etwas gefüllter. Noch bevor sie zur Ruhe kommen kann, öffnet sich die Tür erneut.
»Mitkommen.«
Zögerlich nähert Hailey sich der nach ihr greifenden Hand. Beim ersten Körperkontakt werden ihre Hände nach hinten gepresst, dabei fällt der Bilderrahmen hinab und landet laut klappernd auf dem Boden.
»Was ist das?«, fragt der bullige Wächter genervt und tippt mit der Fußspitze gegen das letzte Überbleibsel, das Hailey aus ihrem alten Leben retten konnte.
»Mir wurde gesagt, dass ich es mitnehmen darf.«
Da sie sich nicht bewegen kann, verleiht sie ihrer Stimme einen festen Klang und hofft, damit genug Autorität auszustrahlen.
»Aha«, entgegnet der Wächter und stößt sie nach vorne.
»Liegen lassen. Das brauchen Sie nicht mehr.«
Bevor Hailey reagieren kann, hört sie Glas und Holz splittern. Macys kindliches Lächeln wird unter den schweren, schwarzen Stiefeln des Wächters zertreten.
Drittes Kapitel
Ungeduldig tritt Macy von einem Fuß auf den anderen. Obwohl es schon öfter vorkam, dass Hailey sich verspätete, ist Macy heute Morgen besonders nervös.
Sie möchte ihrer besten Freundin unbedingt von dem Date mit Jules berichten. Von dem riesigen Blumenstrauß, den er ihr mitbrachte, bis hin zu dem zaghaften Kuss am Ende des Kinoabends. Das Date war perfekt und Macy weiß schon genau, mit welchen Worten sie es beschreiben wird.
Doch Hailey lässt sich einfach nicht blicken. Wütend knirscht sie mit den Zähnen und drückt auf die Klingel. Nichts.
Erneut betätigt sie den Knopf, dieses Mal deutlich länger und energischer. Ihre blauen Augen leuchten voller Anspannung und Vorfreude, doch die Glastür öffnet sich nicht. Neugierig betritt Macy die Eingangshalle und starrt auf die rotleuchtende Anzeige des
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