Traummoerder
Plötzlich spürte er, dass jemand hinter ihm stand. Er drehte sich nicht um. Stattdessen legte er die drei kleinen Kränze auf die Gräber, wie er es immer an den Gedenktagen tat, und sprach leise mit seiner Familie. Erst dann wandte er sich ab und ging langsam auf Mike Kandinski zu.
»Kandinski, wie geht’s? Dieses Treffen ist bestimmt kein Zufall«, sagte Nick mit einem erzwungenen Lächeln. Er war nicht in der Stimmung für einen oberflächlichen Plausch.
Kandinski hielt ihm die Hand hin. »Ich habe mit Neela telefoniert und sie gefragt, wo ich Sie finden kann. Sie sagte, dass Sie heute sicherlich herkommen würden«, erklärte Mike. »Eigentlich hatte ich nicht vor, Sie hier aufzusuchen, aber Neela war so verzweifelt. Sie versicherte mir, dass Sie Verständnis haben und die Dringlichkeit erkennen würden. Bitte akzeptieren Sie meine Entschuldigung.«
Es entstand ein unbehagliches Schweigen. Nick überließ es Kandinski, den nächsten Schritt zu tun.
»Sie haben Ihre Familie besucht?«
»Meine Frau und meine Kinder«, bestätigte Nick.
Kandinski erschrak – er hatte nicht gewusst, dass Nick Hoyle eine Tragödie solchen Ausmaßes erlebt hatte. Selbstverständlich war das kein Thema, das Dermot mit ihm bei einem Bier erörtern würde. »Es tut mir leid, dass Sie einen solchen Verlust erlitten haben.«
»Danke.« Einige Sekunden schwiegen beide wieder.
»Mr. Hoyle, jetzt sehe ich, dass es unpassend ist, Sie hier aufzusuchen, um Ihnen Fragen zu stellen – trotz Mrs. Nolans Beteuerungen. Ich wollte damit Mrs. Nolan nur helfen.«
»Mein Wagen steht dort drüben«, sagte Nick und deutete mit dem Finger in die Richtung. »Lassen Sie uns hingehen. Sie können mich auf dem Weg befragen.«
»Sie kennen Dermot seit dem College – richtig?«
»Ja.«
»Und seither sind Sie enge Freunde.«
»Auch das stimmt.«
»Würden Sie sagen, dass Sie im Laufe des letzten Jahres eine radikale Veränderung an Mr. Nolan bemerken konnten? Irgendetwas, das besonders auffällig war?«
»Sie meinen, ob ich beobachtet habe, wie er den Vollmond anheult? Oder mit scharfen Messern spielt?«
»Ich versuche nur zu helfen, Mr. Hoyle. Das ist alles.«
Nick sah ihn an und schmunzelte. »Ich weiß – und ich entschuldige mich für meine Reaktion. Es ist schwer, einem Booker-Prize etwas Bedeutendes folgen zu lassen. In den letzten achtzehn Monaten fehlte ihm die Inspiration, und ich weiß, dass er eine depressive Phase durchgemacht hat. Deshalb die Medikation.«
»Die Medikation?«
»Es ist keine große Sache. Ich selbst nehme auch seit Jahren Pillen. Depressionen wachsen sich zur Volkskrankheit aus. Für Dermot war dies eine nervenaufreibende Zeit, weil er nicht wusste, ob ihm jemals wieder etwas von der Qualität von Incoming Tide einfällt. Und natürlich wirkte sich das auch finanziell aus. Aber, hey, solche Krisen machen die meisten irgendwann durch.«
Eine Weile sagten sie beide nichts.
»Haben Sie je erlebt, dass Dermot gewalttätig wurde?«
Nick blieb abrupt stehen und sah Kandinski an. »Nein. Niemals. Er ist charakterlich gefestigt. Möglicherweise hat er mehr Ängste als ich, aber ich war im Irak. Heute kann mich nicht mehr viel erschrecken, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Natürlich.«
»Er hat seine dunklen Momente. Aber die haben wir alle.«
»Dunkle Momente?«, hakte Kandinski nach.
»Nichts Großes. Vor ein paar Jahren quälte ihn seine Arbeit so sehr, dass er von heute auf morgen für einige Wochen ganz von der Bildfläche verschwand. Aber er kam zurück – es ging ihm gut, und er brachte ein großartiges Manuskript mit. Selbstverständlich war Neela zu Tode erschrocken, als er plötzlich weg war, weil sie dachte …«
»Dass er sich das Leben nehmen wollte?«
»Ja. Aber er war dann wieder ganz der Alte und benahm sich nicht anders als zuvor.« Er blieb wieder stehen und sah Mike an. »Ich weiß, dass ihn Ihre Ermittlungen ungeheuerlich beunruhigen, und ich kann es kaum erwarten, dass Sie Ihre Arbeit beenden und er diese Sache hinter sich lassen kann.«
»Lassen Sie uns hoffen, dass das bald der Fall sein wird.«
Sie erreichten den Wagen.
Nick drückte Kandinski eine Visitenkarte in die Hand. »Ich weiß, Sie wollen nur das Beste für Dermot – genau wie ich. Falls ich Ihnen irgendwie helfen kann, rufen Sie mich an.«
»Oh, da ist noch was, Mr. Hoyle. Wissen Sie, ob Mr. Nolan persönliche Feinde hat?«
»Persönliche Feinde?«
»Gibt es jemanden, der Groll oder Neid empfindet – ein
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