Traumpfade
berühren könne. Er kannte alle ihre Farben und alle ihre Namen: die Rochen, Lippfische, die Korallenfische, die Chirurgen, die Seeteufel, die Engelbarsche. Jeder war ein »Charakter« mit seinen besonderen, persönlichen Eigenschaften: sie erinnerten ihn an die Gesichter in einer Menschenmenge in Dublin.
Draußen in der See, wo das Korallenriff endete, war ein tiefes, dunkles Kliff, wo einmal ein Tigerhai aus dem Dunkel herausgeschwommen war und ihn umkreist hatte. Er sah die Augen, das Maul, die fünf Kiemenhöhlen, aber das Biest schwenkte ab und entschwand. Er war ans Ufer geschwommen, hatte sich in den Sand gelegt, bebend – es war der verzögerte Schock. Am nächsten Morgen war ihm, als wäre eine Last von ihm genommen, und er wußte, daß er den Tod nicht mehr fürchtete. Wieder schwamm er an derselben Stelle des Kliffs entlang, und wieder umkreiste ihn der Hai und entschwand.
»Fürchten Sie sich nicht!« Er ergriff meine Hand.
Die Gewitterwolken wälzten sich näher. Ein warmer Wind begann von den Wellen herüberzuwehen.
»Fürchten Sie sich nicht!« rief er wieder.
Ich drehte mich um und winkte den zwei undeutlichen Gestalten zu: einem Mann in einem wehenden weißen Gewand und einem Wallaby mit einem Schwanz in Form eines Fragezeichens.
»Fürchten Sie sich nicht!« Er mußte dieselben Worte in meinem Schlaf gesagt haben, denn als ich am Morgen aufwachte, war es das erste, was mir einfiel.
14
D er Himmel war grau und bedeckt, als ich zum Früh stück nach unten ging. Die Sonne war wie eine weiße Blase, und es roch nach Verbranntem. Die Morgenzeitungen waren voll von Meldungen über die Buschbrände im Norden von Adelaide. Die Wolken, stellte ich jetzt fest, waren Rauch. Ich rief bei Freunden an, die sich, soweit ich beurteilen konnte, entweder innerhalb oder ganz in der Nähe des Brandgebietes befanden.
»Nein, alles in Ordnung!« tönte Nins fröhliche, rauhe Stimme durch die Leitung. »Der Wind hat gerade noch rechtzeitig gedreht. Aber wir haben eine haarsträubende Nacht hinter uns.«
Sie hatten den Horizont brennen sehen. Das Feuer war mit einer Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern dahergerast, und zwischen den Flammen und ihnen hatte nur noch staatlicher Wald gelegen. Die Spitzen der Eukalyptusbäume waren wie Feuerbälle explodiert und von dem sturmähnlichen Wind fortgetragen worden.
»Wirklich haarsträubend«, sagte ich.
»Das ist Australien«, rief sie zurück, und dann war die Leitung tot.
Draußen war es so heiß und schwül, daß ich in mein Zimmer zurückging, die Klimaanlage anstellte und den größten Teil des Tages mit der Lektüre von Strehlows Songs of Central Australia verbrachte.
Es war ein umständliches, weitschweifiges und unglaublich langes Buch, und Strehlow selbst muß allen Berichten zufolge ein umständlicher Mensch gewesen sein. Sein Vater, Karl Strehlow, war Pastor gewesen und hatte die Luthe rische Mission in Hermannsburg westlich von Alice Springs geleitet. Er gehörte zu der Handvoll »guter Deutscher«, die den Aborigines Zentralaustraliens eine sichere Landbasis zur Verfügung stellten und so mehr als alle anderen taten, um sie vor der Ausrottung durch Menschen britischer Herkunft zu retten. Dadurch machten sie sich nicht beliebt. Im Ersten Weltkrieg wurde eine Pressekampagne gegen dieses »teutonische Spionennest« und die »bösen Folgen der Germanisierung von Eingeborenen« gestartet.
Als Säugling hatte Ted Strehlow eine Aranda-Amme, und er sprach bereits als Kind fließend Aranda. Später, nach Abschluß seines Universitätsstudiums, ging er zu »seinem Volk« zurück, und über dreißig Jahre lang hielt er in Notizbüchern, auf Tonbänden und Filmen die Lieder und die Übergabezeremonien fest. Seine schwarzen Freunde hatten ihn darum gebeten, damit ihre Lieder nicht ganz mit ihnen ausstürben.
Angesichts dessen war es nicht weiter überraschend, daß Strehlow eine zerrissene Persönlichkeit war: ein Autodidakt, der sowohl Einsamkeit als auch Anerkennung brauchte, ein deutscher »Idealist«, der mit den Idealen Australiens auf Kriegsfuß stand.
Aranda Traditions , sein früheres Buch, war mit seiner These, daß der Geist des »Primitiven« dem des modernen Menschen keineswegs unterlegen sei, seiner Zeit um Jahre voraus. Diese Botschaft, die bei angelsächsischen Lesern weitgehend auf taube Ohren stieß, wurde von Claude Lévi-Strauss übernommen, der Strehlows Erkenntnisse in Das wilde Denken aufnahm.
Und dann, im fortgeschrittenen
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