Traumpfade
Alter, setzte Strehlow alles für eine grandiose Idee aufs Spiel.
Er wollte den Beweis erbringen, daß jeder Aspekt des Aborigine-Songs seine Entsprechung im Hebräischen, Altgriechischen, Altnorwegischen oder Altenglischen hatte: in den Literaturen, die wir als unsere eigenen ansehen. Er hatte den Zusammenhang zwischen Lied und Land erkannt und wollte das Lied jetzt an seiner Wurzel selbst fassen – im Lied einen Schlüssel finden, um das Geheimnis der menschlichen Existenz zu ergründen. Es war ein unmögliches Unterfangen. Er erhielt keinen Dank für seine Mühen.
Als die Songs 1971 erschienen, deutete eine nörgelige Besprechung im Times Literary Supplement an, daß der Autor sich der Verbreitung seiner »großen poetischen Idee« besser enthalten hätte. Über diese Kritik war Strehlow sehr aufgebracht. Noch aufgebrachter war er über die Angriffe von »Aktivisten«, die ihm vorwarfen, unschuldigen und arglosen Ältesten die Lieder zum Zwecke der Veröffentlichung gestohlen zu haben.
Strehlow starb 1978 an seinem Schreibtisch, ein gebrochener Mann. Seinem Andenken wurde mit einer in abfälligem Ton gehaltenen Biographie gehuldigt, die mir, als ich im Desert Bookstore einen Blick hineinwarf, den Eindruck vermittelte, als sei sie nicht einmal der Verachtung wert. Er war, davon bin ich überzeugt, ein höchst origineller Denker. Seine Bücher sind große, einsame Bücher.
Gegen fünf Uhr nachmittags stattete ich Arkady in seinem Büro einen Besuch ab.
»Ich habe gute Nachrichten für Sie«, sagte er.
Aus Cullen, einem Aborigine-Außenposten rund 550 Kilometer entfernt am Rand Westaustraliens, war eine Funkmeldung gekommen. Zwei Klans waren wegen Bergbautantiemen zerstritten. Sie wollten Arkady als Vermittler hinzuziehen.
»Wollen Sie mitkommen?« fragte er.
»Natürlich.«
»Wir können die Sache mit der Eisenbahn in ein paar Tagen hinter uns bringen. Anschließend nehmen wir Kurs nach Westen, quer durchs Land.«
Er hatte bereits eine Genehmigung für mich erhalten, ein Aborigine-Reservat zu besuchen. Für den Abend hatte er seit langem eine Verabredung, daher rief ich Marian an und fragte, ob sie Lust auf eine gemeinsame Mahlzeit hätte.
»Keine Zeit!« rief sie atemlos zurück.
Sie war dabei gewesen, die Haustür abzuschließen, als das Telefon klingelte. Sie war im Begriff, nach Tennant Creek aufzubrechen, um die Frauen zum Vermessen der heiligen Stätten abzuholen.
»Wir sehen uns morgen«, sagte ich.
»Bis morgen.«
Ich aß im Colonel Sanders in der Todd Street zu Abend. Im grellen Neonlicht hielt ein Mann in einem geschniegelten blauen Anzug eine Rede vor künftigen Hühnerbratern im Teenageralter, als wäre das Braten von Kentucky-Hühnchen eine religiöse Zeremonie.
Ich ging in mein Zimmer zurück und verbrachte den Abend mit Strehlow und einer Flasche »Burgunder«.
Strehlow hatte das Studium von Aborigine-Mythen einmal mit dem Betreten eines »Labyrinths aus zahllosen Gängen und Passagen« verglichen, die alle auf rätselhafte und verwirrend komplizierte Weise miteinander verbunden seien. Beim Lesen von Songs of Central Australia gewann ich den Eindruck, daß der Mann diese geheimnisvolle Welt durch die Hintertür betreten hatte, daß er die Vision einer geistigen Konstruktion gehabt hatte, die phantastischer und ausgeklügelter war als alles auf der Erde, eine Konstruktion, die die materiellen Errungenschaften des Menschen überflüssig erscheinen ließ – und die sich dennoch auf irgendeine Weise einer näheren Beschreibung entzog.
Es ist die endlose Anhäufung von Einzelheiten, die einem das Verständnis von Aborigine-Songs erschwert. Doch auch ein oberflächlicher Leser bekommt einen flüchtigen Einblick in ein moralisches Universum – moralisch wie das Neue Testament –, in dem sich Verwandtschaftsbeziehungen auf alle lebenden Menschen ausdehnen, auf alle anderen Lebewesen und auf die Flüsse, die Felsen und die Bäume.
Ich las weiter. Strehlows Transliterationen aus dem Aranda waren dazu angetan, jeden zum Schielen zu bringen. Als ich nicht mehr weiterlesen konnte, schloß ich das Buch. Meine Lider fühlten sich an wie Glaspapier. Ich trank die Flasche Wein aus und ging auf einen Brandy zur Bar hinunter.
Ein dicker Mann und seine Frau saßen am Schwimmbecken.
»Einen wunderschönen guten Abend, Sir!« sagte er.
»Guten Abend«, sagte ich.
Ich bestellte Kaffee und einen doppelten Brandy an der Bar und nahm einen zweiten Brandy mit ins Zimmer. Die Lektüre Strehlows hatte
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