Traumreisende
Sie sangen von der Erschaffung der Welt durch das Träumen, und jeden Abend komponierten sie mindestens ein neues Lied. Gewisse Lieder waren mit Tanzschritten verbunden, bei denen sich die Frauen im Uhrzeigersinn oder auch umgekehrt im Kreis bewegten oder eine Reihe bildeten. Ein andermal wurden sie ermutigt, sich frei zu bewegen und individuell auszudrücken. »In vielen Stämmen tanzten Männer und Frauen niemals zusammen, aber das war vor langer Zeit, als wir noch nicht so wenige waren. Manchmal müssen weniger wichtige Dinge der Not gehorchend geändert werden«, erklärte Wurtawurta leise, und ihre dunklen Augen waren voller Erinnerung. Nach jedem Musizieren dankten sie den Bestandteilen der Natur, die sie benutzt hatten, und waren dankbar dafür, ihre Zeit auf so angenehme Weise verbracht zu haben. Dann zerlegten sie die Instrumente wieder und gaben sie der Erde zurück.
Eines Abends, als Minendie die Musik besonders bewegend fand, sagte Wurtawurta zu ihr: »Wenn ein menschliches Wesen allein auf einer Insel geboren würde und keinen anderen menschlichen Kontakt hätte, würde es zwei ganz spezifische Merkmale entwickeln, etwas, mit dem wir geboren werden, wie der Vogel mit dem Wissen zur Welt kommt, wie man ein Nest baut. Weißt du, welche Eigenschaften das wären?« Minendie schüttelte den Kopf.
»Die Musik und der Humor. Ein einsamer Mensch würde lernen zu summen, zu singen und vielleicht sogar einen Weg finden, ganze Lieder zu entwickeln. Der einsame Mensch würde auch entdecken, wie es sich anfühlt, wenn seine eigene Stimme lacht. Ja, sowohl die Musik als auch das Lachen sind Medizin für den Körper und für die Seele.«
Minendie hatte darüber noch nie nachgedacht, aber in ihrem Fall war das sicher zutreffend; Lachen bewirkte immer, dass sie sich besser fühlte, und auf Musik reagierte sie so stark, dass sie Lust bekam zu laufen, zu tanzen oder zu weinen. Ich bin nicht allein auf einer Insel zurückgelassen worden, dachte sie, aber doch beinahe! Die Route ihres Walkabouts war nicht rein zufällig gewählt worden. Sie kannten die Jahreszeiten, wussten, welche Pflanzen zu welcher Zeit Früchte tragen würden. Sie gingen hingebungsvoll den Pflichten nach, die sie auf sich genommen hatten, und hüteten das Land der anderen Stämme, die selbst dazu nicht mehr in der Lage waren.
Im Laufe der Jahre konnten sie auch die Veränderungen der Erde bemerken. Nach dem Regen blieben von den ausgetrockneten Pfützen Rückstände auf dem Gestein zurück. Jeden Sommer schien es heißer zu werden als im Sommer davor, und jeden Winter wurde es wärmer. Es war so heiß geworden, dass bestimmte Schlangen ihren früheren Lebensraum verlassen und sich einen neuen gesucht hatten. Die Fische, die sie fingen, hatten Geschwüre im Inneren, und später konnte man ihnen die Krankheit auch von außen ansehen.
Eines Tages zeigte Wurtawurta Googana an einem sumpfigen Teich missgebildete Kaulquappen und kleine Frösche. Manche hatten nur ein Hinterbein, manche ein langes und ein kurzes, wieder andere hatten drei Hinterbeine. Da beschloss die Gruppe, bei der nächsten Versammlung aller zwanzig »Wahren Menschen« über das zu sprechen, was man beobachtete und was mit der Erde geschah. Die Versammlung sollte bald stattfinden.
Minendie fragte, ob das Leben der männlichen und weiblichen Gruppenmitglieder immer so angenehm und gleichberechtigt verlaufen sei. Es schien hier keine männliche Dominanz zu geben, aber sie wusste nicht, ob das einfach die Art von Googana und Mitamit wäre oder ob andere Gruppen von Aborigines, die zusammenlebten, sich ebenso verhielten. Bei den »Veränderten« galten die Männer entschieden als die überlegenen, und auch die schwarzen Männer hielten sich in der modernen Welt für intelligenter als schwarze Frauen.
»Wir haben Männerangelegenheiten und Frauenangelegenheiten«, sagte Wurtawurta zu ihr, als sie zusammen im Schatten der Bäume auf einem Felsabhang saßen. »Es ist nicht so, als seien die einen besser oder schlechter als die anderen; unsere Geister sind gleich, aber unsere Körper nicht. Frauen beteiligen sich nicht an Männerangelegenheiten und sprechen nicht darüber. Was jeweils genau stattfindet, wissen wir nicht. Bei der Kommunikation von Kopf zu Kopf und Herz zu Herz gibt es keine wirklichen Geheimnisse, aber was sie tun, kümmert uns nicht. Wie die Männer das mit den Unterschieden bei den Stammesbräuchen handhaben, seit alles auseinandergerissen wurde und sich kleinere Gruppen mit
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