Traumreisende
Ausdrucksweisen und Vorstellungen hat. Wir sind tief mit der Natur verbunden, und wir sehen, dass der Baum nicht bricht, weil er sich neigt. Je größer er wird, desto mehr neigt er sich.
Wenn bei uns zwei Menschen verschiedener Meinung sind, dann hören wir auf, die Richtung genau festzulegen, aus der wir sprechen. Weißt du, davon gibt es sieben: Norden, Süden, Osten, Westen, Himmel oben, Erde unten, das Innere. Bei einer Auseinandersetzung könnte man sagen, dass jemand von Westen her spricht, aus der Vergangenheit, von etwas, das er auf eine bestimmte Weise sieht. Oder er spricht von Osten her und richtet seinen Blick auf das Gelingen von etwas Zukünftigem. Vielleicht spricht er auch von innen her und sagt, was in seinem Herzen oder Bauch ist. Wenn zwei Menschen dann nicht den Standpunkt des anderen sehen und zu einer Einigung kommen können, tauschen sie die Plätze. Ja, sie tauschen physisch die Plätze und treten in die Fußstapfen des anderen. Dann sprechen sie aus dessen Sicht. Genauso aggressiv, genauso leidenschaftlich wie vorher. Gewöhnlich kommen sie dadurch zu einer Verständigung. Falls nicht, hören sie auf und sagen zueinander: >Was sollen wir hieraus lernen?<
Beatrice, Tausende von Jahren hat unser Volk friedlich zusammengelebt. Jeder wird respektiert, jeder ist beteiligt, jeder wird unterstützt, wir sind ein Team. Du könntest sagen, ein Team aus Menschen mit einem spirituellen Auftrag. Ein weiterer Faktor, der mir zuerst sehr fremd vorkam und den ich noch immer für einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Kulturen halte, ist der Begriff des Wettbewerbs. In der Welt der >Veränderten< ist nur für einen Platz an der Spitze; alle anderen müssen sich darunter einordnen, wie bei einem Dreieck: Die meisten sind ganz unten, und alle unterstützen den an der Spitze. Ich kann es nur schwer verstehen, wie Eltern ihrem Kind erzählen können, dass nur einer gewinnen könne und alle anderen verlieren müssen. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass es nicht genug Ansehen, nicht genug führende Plätze gibt, also kann nur einer erfolgreich sein, und alle anderen müssen sich mit minderen Rollen zufrieden geben. Ich glaube, die Konkurrenz erzeugt die Vorstellung, es herrschten Mangel und Begrenztheit, nährt Gefühle von Neid und Gewalt und trägt so mehr dazu bei, die Menschen zu entzweien, als jeder andere Faktor.«
»Natürlich«, warf Beatrice ein, »würden die >Veränderten< sagen, dass die Welt dadurch so fortschrittlich und bequem geworden sei. Menschen, die Dinge erfinden, werden reich und berühmt.«
»Das stimmt, aber sind wir deswegen besser dran? Ist die Erde gesünder? Sind Pflanzen, Tiere, Menschen gesünder? Sieht die Zukunft durch den Wettbewerb heller und vielversprechender aus? Ich urteile nicht, da ich weiß, dass alles Teil der Göttlichen Ordnung ist. Doch als Beobachterin muss ich sagen, dass es für mich persönlich keinen guten Geruch hat. Ich muss jene segnen, die in Begriffen wie >Überlegenheit< oder >Ungenügend< denken, und sie gehen lassen. Die Aborigines haben die Welt immer eher wie ein flaches Puzzlespiel betrachtet und nicht wie ein Dreieck. Wir meinen, dass jeder in das Puzzle hineinpasst und ein wesentlicher Bestandteil davon ist. Ohne eine einzelne Person - egal welche - wären wir unvollständig. Wir hätten ein gähnendes Loch in unserem Puzzle. Wenn wir am Feuer sitzen, bringt jeder etwas Einzigartiges ein. Da ist jemand, der in unserer Gruppe Kenntnisse im Jagen einbringt, ein anderer ist ein Lehrer, ein Koch, ein Heiler, ein Zuhörer, ein Tänzer und so fort. Wir haben jemanden, der unser Anführer ist, aber wir wissen auch, dass jeder die Fähigkeit zu führen besitzt und führen dürfen sollte, wenn wir uns diese Erfahrung wünschen. Wir besitzen auch die Fähigkeit zu folgen. Eines ist nicht besser als das andere. Es gibt eine Zeit und einen Platz für beides.«
Beatrice, die über die Rassenunterschiede in der Stadt zwischen den heutigen urbanen Aborigines und den Nachkommen der verpflanzten Europäer nachdachte, fragte sich: Welche Seite - oder vielleicht beide? - denkt in Begriffen von Mangel und Begrenztheit? Schließlich leben wir alle unsere Traumzeit.
Im Morgengrauen erwachte Beatrice mit einem Gedanken, der ihr schon im Halbschlaf in den Sinn gekommen war: Wohin gehöre ich? Sie hatte erwogen, einen neuen Namen anzunehmen, aber das war eine Sache, die man nicht übereilen durfte. Der Name musste ein Wort sein, das dem Ohr angenehm
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