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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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lebensspendender Fluss.« Er senkte grinsend die Zeitung. »Aus welchem Film stammt das? Na los, Adel. Wir haben ihn letzten Monat gesehen.«
    Adel zuckte mit den Schultern und wollte nach oben gehen.
    »Lawrence«, rief Kabir vom Sofa. »Lawrence von Arabien. Anthony Quinn.« Und als Adel schon oben auf der Treppe stand, rief er noch: »Sie sind Geier, Adel. Fall ja nicht auf sie herein. Wenn sie könnten, würden sie deinem Vater das Fleisch von den Knochen nagen.«
    * * *
    Eines Morgens, sein Vater war schon seit einigen Tagen fort, ging Adel nach oben zum Schlafzimmer seiner Eltern, aus dem laute Musik ertönte. Beim Eintreten erblickte Adel seine Mutter, die in Shorts und T-Shirt vor dem riesigen Flachbildschirm die Übungen dreier blonder, verschwitzter Frauen nachahmte: Sie sprang auf, warf sich hin, machte Ausfallschritte und Liegestützen. Sie sah ihn im großen Spiegel ihrer Garderobe.
    * * *
    »Möchtest du mitmachen?«, rief sie keuchend.
    »Nein, ich setz mich hier hin«, sagte er, ließ sich auf dem Teppich nieder und sah zu, wie Aria, seine Mutter, kreuz und quer durch das Zimmer sprang.
    Adels Mutter hatte zarte Hände und Füße und eine Stupsnase, und sie war ähnlich hübsch wie die Schauspielerinnen in Kabirs Bollywood-Filmen. Sie war schlank, beweglich und jung – bei ihrer Heirat mit Baba jan war sie erst vierzehn gewesen. Adel hatte eine zweite, ältere Mutter und drei ältere Stiefbrüder, aber Baba jan hatte dafür gesorgt, dass sie im Osten des Landes, in Jalalabad, wohnten, und Adel sah sie höchstens einmal im Monat, wenn Baba jan mit ihm zu Besuch dorthin fuhr. Im Gegensatz zu seiner Mutter und seiner Stiefmutter, die einander nicht mochten, hatte Adel ein gutes Verhältnis zu seinen Stiefbrüdern. Sie gingen mit ihm in die Parks, Basare und Kinos und zu buzkashi -Turnieren. Sie spielten gemeinsam Resident Evil und killten Zombies in Call of Duty , und wenn im Viertel Fußball gespielt wurde, wählten sie ihn immer in ihre Mannschaft. Adel wünschte sich sehr, in ihrer Nähe zu wohnen.
    Adel sah zu, wie seine auf dem Rücken liegende Mutter die Beine, zwischen denen ein blauer Plastikball klemmte, hob und senkte.
    Adel fand Shadbagh todlangweilig, das war die traurige Wahrheit. Er wohnte jetzt seit zwei Jahren hier und hatte noch keinen einzigen Freund gefunden. Er durfte nicht mit dem Fahrrad in die Stadt fahren, schon gar nicht allein, weil es in der Region regelmäßig Entführungen gab, und wenn er sich einmal davonstahl, dann immer nur kurz und ohne sich weit vom Anwesen zu entfernen. Er hatte auch keine Klassenkameraden, denn er durfte die örtliche Schule nicht besuchen – laut Baba jan aus Sicherheitsgründen – und erhielt jeden Vormittag Einzelunterricht von einem Lehrer, der extra vorbeikam. Adel verbrachte seine Zeit, indem er las oder einen Fußball durch die Gegend kickte oder mit Kabir Filme guckte, manche davon mehrmals. Er lief ziellos durch die breiten, hohen Flure und vielen leeren Räume oder saß oben in seinem Zimmer und starrte aus dem Fenster. Er lebte in einer riesigen Villa, aber in einer winzigen Welt. An manchen Tagen langweilte er sich so sehr, dass er nichts mit sich anzufangen wusste.
    Er ahnte, dass seine Mutter ebenso einsam war. Sie versuchte, das Problem durch einen geregelten Tagesablauf in den Griff zu kriegen, machte morgens ihre Übungen, duschte danach, frühstückte und las, arbeitete im Garten und sah nachmittags indische Soaps. Wenn Baba jan wieder einmal verreist war, trug sie im Haus nur graue Sweatshirts und Turnschuhe, schminkte sich nicht und steckte ihr Haar am Hinterkopf zu einem Knoten zusammen. Dann blieb das Kästchen mit den Ringen, Ketten und Ohrringen, die Baba jan ihr aus Dubai mitgebracht hatte, meist geschlossen. Sie plauderte stundenlang mit ihrer Familie in Kabul. Adels Mutter erwachte nur dann richtig zum Leben, wenn ihre Schwester und ihre Eltern zu Besuch waren, was alle zwei oder drei Monate geschah. Dann trug sie ein langes, gemustertes Kleid und hohe Schuhe und legte Make-up auf. Ihre Augen funkelten, und ihr Lachen war im ganzen Haus zu hören. Bei diesen Gelegenheiten bekam Adel eine Ahnung von der Person, die sie früher einmal gewesen sein musste.
    Wenn Baba jan auf Reisen war, versuchten sie, sich die Zeit miteinander zu vertreiben. Sie legten Puzzles und spielten Golf und Tennis auf Adels Wii. Am liebsten baute Adel mit seiner Mutter Häuser aus Zahnstochern. Dann zeichnete sie den dreidimensionalen

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