Traumsammler: Roman (German Edition)
leiden.«
»Ja, ich weiß«, murmelte Adel.
Baba jan drückte sanft sein Knie. »Ich weiß, dass du Kabul und deine Freunde vermisst. Deiner Mutter und dir fällt es schwer, hier heimisch zu werden. Und ich weiß, dass ich oft auf Reisen oder bei Versammlungen bin und dass viele Leute meine Zeit beanspruchen. Aber. Sieh mich an, mein Sohn.«
Adel hob den Blick und sah Baba jan in die Augen. Sie leuchteten ihn unter dem Baldachin der buschigen Brauen freundlich an.
»Niemand auf der Welt bedeutet mir mehr als du, Adel. Du bist mein Sohn. Ich würde alles für dich aufgeben, und zwar mit Freude. Ich würde mein Leben für dich geben.«
Adel nickte mit Tränen in den Augen. Wenn Baba jan so zu ihm sprach, schwoll sein Herz so sehr in der Brust an, dass er kaum noch Luft bekam.
»Verstehst du das?«
»Ja, Baba jan.«
»Glaubst du mir?«
»Ja.«
»Gut. Dann gib deinem Vater einen Kuss.«
Adel schlang die Arme um Baba jans Hals, und sein Vater umarmte ihn lange und fest. Adel konnte sich daran erinnern, dass er seinen Vater früher, als er kleiner gewesen war, oft mitten in der Nacht nach einem Albtraum auf die Schulter getippt hatte, und dann hatte sein Vater die Decke zurückgeschlagen und ihn zu sich ins Bett gelassen, ihn zugedeckt und auf den Kopf geküsst, bis Adel nicht mehr gezittert hatte und wieder eingeschlafen war.
»Vielleicht bringe ich dir aus Helmand ein kleines Geschenk mit«, sagte Baba jan.
»Das muss nicht sein«, sagte Adel mit erstickter Stimme. Er hatte schon mehr als genug zum Spielen, und kein Spielzeug auf Erden konnte ihn über die Abwesenheit seines Vaters hinwegtrösten.
* * *
Später am Tag beobachtete Adel eine Szene, die sich vor der Haustür abspielte. Jemand hatte geklingelt, und Kabir hatte geöffnet. Nun lehnte Kabir mit vor der Brust verschränkten Armen am Türrahmen und versperrte der Person, mit der er sprach, den Weg. Es war der alte Mann, den Adel vormittags bei der Schule gesehen hatte, der Mann mit Brille und Zähnen wie abgebrannten Streichholzköpfen. Der Junge mit den löcherigen Schuhen stand neben ihm.
Der alte Mann sagte: »Wo ist er hingefahren?«
Kabir antwortete: »In den Süden. Geschäftlich.«
»Er soll doch erst morgen fahren.«
Kabir zuckte mit den Schultern.
»Wie lange ist er fort?«
»Zwei Monate, vielleicht auch drei. Wer weiß.«
»Ich habe etwas anderes gehört.«
»Du strapazierst meine Geduld, alter Mann«, sagte Kabir und löste die Arme von der Brust.
»Ich warte auf ihn.«
»Aber ganz sicher nicht hier.«
»Vorne an der Straße, meine ich.«
Kabir wechselte ungeduldig das Standbein. »Wie du willst«, sagte er. »Aber der Kommandant hat viel zu tun. Ich weiß nicht, wann er zurückkommt.«
Der alte Mann nickte, dann wich er zurück, gefolgt von dem Jungen.
Kabir schloss die Tür.
Adel zog den Vorhang des Wohnzimmerfensters auf und sah dem alten Mann und dem Jungen nach, die auf dem ungeteerten Weg zur Hauptstraße zurückkehrten.
»Du hast ihn angelogen«, sagte Adel.
»Das gehört zu meinem Job. Ich muss deinen Vater vor Geiern beschützen.«
»Was will er überhaupt? Eine Arbeit?«
»So ähnlich.«
Kabir setzte sich auf das Sofa und zog die Schuhe aus. Er sah zu Adel auf und zwinkerte ihm zu. Adel mochte Kabir viel lieber als Azmaray, denn dieser war unfreundlich und sprach kaum ein Wort mit ihm. Kabir spielte Karten mit Adel und lud ihn ein, gemeinsam DVDs zu gucken. Kabir war ein Filmfan. Er hatte auf dem Schwarzmarkt eine ganze Sammlung zusammengekauft und sah pro Woche zehn bis zwölf Filme – iranische, französische oder amerikanische und natürlich Bollywood-Produktionen, einfach alles. Und wenn Adels Mutter sich in einem anderen Raum aufhielt, zog Kabir manchmal das Magazin aus der Kalaschnikow, und dann durfte Adel sie halten wie ein Mudschaheddin. Jetzt lehnte die Kalaschnikow an der Wand neben der Haustür.
Kabir legte sich auf das Sofa und schwang die Füße auf eine Armlehne. Er begann, in einer Zeitung zu blättern.
»Die beiden sehen ziemlich harmlos aus«, sagte Adel, der den Vorhang losließ und sich zu Kabir umdrehte. Er konnte die Stirn des Leibwächters über den Rand der Zeitung hinweg sehen.
»Ja, ich hätte sie auf einen Tee hereinbitten sollen«, murmelte Kabir. »Und auf ein Stückchen Kuchen.«
»Hör auf, Witze zu machen.«
»Diese Leute sehen immer harmlos aus.«
»Wird Baba jan ihnen helfen?«
»Wahrscheinlich«, sagte Kabir seufzend. »Dein Vater ist den Menschen ein
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