Traumsammler: Roman (German Edition)
Auto über den großen, öffentlichen Platz. Mitten darauf standen ein blauer Springbrunnen und die fast drei Meter hohe, schwarze Steinskulptur eines nach Osten schauenden Mudschaheddin mit elegant um den Kopf geschlungenem Turban und einem Granatwerfer auf der Schulter. Baba jan hatte diese Skulptur bei einem Kabuler Bildhauer in Auftrag gegeben.
Nördlich des Platzes befand sich ein Wohnviertel, das aus zumeist ungepflasterten Straßen und kleinen, gelb, weiß oder blau gestrichenen Häusern mit flachem Dach bestand. Auf manchen sah man Satellitenschüsseln, in einigen Fenstern hing die afghanische Flagge. Baba jan hatte Adel erzählt, dass die meisten Häuser und Geschäfte in Shadbagh-e-Nau während der letzten fünfzehn Jahre erbaut worden waren. Er war in den meisten Fällen daran beteiligt gewesen. Die hier lebenden Menschen betrachteten ihn als Gründer von Shadbagh-e-Nau, und Adel wusste, dass die Stadtältesten ihm angeboten hatten, die Stadt nach ihm zu benennen, eine Ehre, die Baba jan ausgeschlagen hatte.
Von hier aus führte die Hauptstraße zum gut drei Kilometer entfernten Shadbagh-e-Kohna, Alt-Shadbagh. Adel kannte das ursprüngliche Dorf nicht mehr, denn als Baba jan mit ihm und seiner Mutter aus Kabul hierhergezogen war, hatte es schon nicht mehr existiert. Die alten Häuser waren längst verschwunden, und das einzige Relikt aus der Vergangenheit war eine alte, verfallende Windmühle. In Shadbagh-e-Kohna bog Kabir von der Hauptstraße nach links auf einen breiten, ungeteerten, einen Kilometer langen Weg ab, der bis zu den dicken, dreieinhalb Meter hohen Mauern des Anwesens führte, auf dem Adel mit seinen Eltern wohnte – das einzige Gebäude in Shadbagh-e-Kohna, von der Windmühle einmal abgesehen. Während der SUV über Stock und Stein rumpelte, betrachtete Adel die weißgetünchten, oben mit Stacheldraht gesicherten Mauern.
Der uniformierte Wachmann salutierte und öffnete das Haupttor, und Kabir lenkte den SUV auf einem breiten Kiesweg bis zum Wohnhaus.
Das in Rosa und Türkis gestrichene Haus hatte drei Stockwerke, hohe Säulen, spitze Giebel und spiegelverglaste, in der Sonne blitzende Fenster. Es gab Erker, Balkone mit halbrunden, schmiedeeisernen Geländern und eine Veranda mit bunten Mosaiken. Adels Familie standen sieben Bäder und neun Schlafzimmer zur Verfügung, und wenn er mit seinem Baba jan Verstecken spielte, musste er oft eine Stunde suchen, bis er seinen Vater fand. Die Waschtische in den Bädern und die Arbeitsflächen in der Küche waren aus Granit und Marmor. Zu Adels Begeisterung hatte sein Baba jan vor einiger Zeit überlegt, im Keller einen Pool einbauen zu lassen.
Kabir hielt auf der kreisrunden Einfahrt vor dem hohen Hauseingang. Er stellte den Motor ab.
»Würdest du uns kurz allein lassen?«, fragte Baba jan.
Kabir nickte und stieg aus. Adel sah zu, wie er auf der Marmortreppe zur Tür ging und klingelte. Azmaray, der zweite Leibwächter, ein kleiner, gedrungener, mürrischer Kerl, öffnete. Die beiden Männer wechselten ein paar Worte, dann zündeten sie sich auf der Treppe eine Zigarette an.
»Musst du wirklich weg?«, fragte Adel. Sein Vater wollte am nächsten Morgen nach Süden aufbrechen, um seine Baumwollfelder in Helmand zu inspizieren und mit den Arbeitern in der Baumwollfabrik zu sprechen, die er dort hatte errichten lassen. Er wäre zwei Wochen weg, in Adels Augen eine Ewigkeit.
Baba jan nahm über die Hälfte der Rückbank ein, und Adel wirkte winzig neben ihm. Er sah seinem Sohn in die Augen. »Ich wünschte, ich könnte bleiben.«
Adel nickte. »Ich war heute stolz. Ich war stolz auf dich.«
Baba jan legte Adel seine schwere Hand auf das Knie. »Danke, Adel. Das ehrt mich. Aber ich nehme dich zu diesen Veranstaltungen mit, damit du etwas lernst und begreifst, dass die vom Glück Bevorzugten, also Menschen wie wir, eine Verantwortung haben, der sie gerecht werden müssen.«
»Ich wünschte nur, du müsstest nicht immer verreisen.«
»Ich auch, mein Sohn. Ich auch. Aber ich fahre erst morgen. Und heute bin ich am späten Abend zurück.«
Adel nickte, den Blick auf seine Hände gesenkt.
»Du musst begreifen«, sagte sein Vater leise, »dass ich in dieser Stadt gebraucht werde, Adel. Die Menschen brauchen meine Hilfe, um ein Zuhause und eine Arbeit zu finden, ein Auskommen zu haben. Kabul hat seine eigenen Probleme. Dort kann man den Menschen von hier nicht helfen. Wenn ich es also nicht tue, tut es niemand. Dann würden diese Menschen
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