Traumsammler: Roman (German Edition)
und sei immer wieder auf ihre ausladenden Äste geklettert. Sein Vater, Abdullahs Großvater, hatte an einem Ast dicke Seile befestigt und eine Schaukel daran aufgehängt, die viele harte Winter, ja sogar den alten Mann selbst überlebt hatte. Als Kinder, sagte sein Vater, hätten er und Parwana und deren Schwester Masooma immer auf dieser Schaukel gesessen.
Aber jetzt war Abdullahs Vater nach der Arbeit meist zu erschöpft, wenn Pari an seinem Ärmel zupfte und ihn bat, ihr auf der Schaukel Anschwung zu geben.
Vielleicht morgen, Pari.
Nur ganz kurz, Baba. Bitte komm mit.
Nicht jetzt. Ein andermal.
Schließlich gab Pari auf, ließ den Ärmel los und verschwand betrübt. Und wenn ihr Vater ihr nachsah, fiel seine Miene manchmal in sich zusammen. Dann drehte er sich auf seinem Lager auf die andere Seite, deckte sich zu und schloss die müden Augen.
Abdullah fand es unvorstellbar, dass sein Vater früher einmal auf dieser Schaukel gesessen haben sollte. Er fand es überhaupt unvorstellbar, dass sein Vater einmal ein Junge gewesen war. Ein kleiner Junge. Sorglos und leichtfüßig. Einer, der mit seinen Spielkameraden über die Äcker gerannt war. Denn die Hände seines Vaters waren vernarbt, und auf seinem Gesicht hatten sich tiefe Falten der Erschöpfung eingegraben. Sein Vater, dachte Abdullah, hätte ebenso gut mit einer Schaufel in der Hand und mit Dreck unter den Fingernägeln geboren worden sein können.
* * *
Sie mussten die Nacht in der Wüste verbringen. Sie aßen Brot und die letzten gekochten Kartoffeln, die Parwana für sie eingepackt hatte. Abdullahs Vater entfachte ein Feuer, und sie kochten Tee.
Abdullah lag neben dem Feuer und schmiegte sich unter der Wolldecke an Pari, die ihre kalten Füße gegen ihn drückte.
Sein Vater beugte sich über die Flammen, um sich eine Zigarette anzuzünden.
Abdullah rollte sich auf den Rücken, und Pari bettete ihre Wange wie üblich in die Mulde unter seinem Schlüsselbein. Er roch den kupferartigen Duft des Wüstenstaubs und sah zum Himmel auf, an dem unzählige Sterne wie Eiskristalle blitzten und flackerten. Die zarte Mondsichel schwebte im geisterhaften Umriss des Vollmonds wie in einer Wiege.
Abdullah dachte an den Winter vor drei Jahren. Damals war alles in Dunkelheit getaucht gewesen. Der Sturm hatte draußen vor der Tür geheult, unablässig und abwechselnd laut und leise, und der Wind hatte durch jede noch so kleine Ritze in der Decke gepfiffen. Alle Häuser waren eingeschneit, die Nächte lang und sternenlos und die Tage kurz und finster gewesen, und wenn die Sonne sich gezeigt hatte, dann so kurz, als wäre sie nur auf Stippvisite. Abdullah erinnerte sich an Omars klägliches Geschrei und die Stille danach, und er hatte noch seinen Vater vor Augen, der voller Ingrimm eine Mondsichel wie jene, die jetzt am Himmel hing, in ein Holzbrett geschnitzt und dieses am Kopfende des kleinen Grabes in den hartgefrorenen Boden gerammt hatte.
Nun neigte sich ein weiterer Herbst dem Ende entgegen, und der Winter lauerte schon hinter der nächsten Ecke. Sein Vater und Parwana sprachen nie davon, als befürchteten sie, seinen Anbruch durch Worte beschleunigen zu können.
»Vater?«, sagte Abdullah.
Sein Vater, der auf der anderen Seite des Feuers saß, brummte leise.
»Darf ich dir helfen? Beim Bau des Gästehauses, meine ich?«
Gekräuselter Rauch stieg von der Zigarette auf. Sein Vater starrte ins Dunkel.
»Vater?«
Sein Vater rutschte auf dem Stein zu ihm herum. »Du kannst mir beim Anrühren des Mörtels helfen«, sagte er.
»Ich weiß nicht, wie das geht.«
»Ich zeige es dir. Du wirst es lernen.«
»Und ich?«, fragte Pari.
»Du?«, sagte ihr Vater träge. Er zog an der Zigarette und stocherte mit einem Stock im Feuer. Fünkchen stoben auf und tanzten in die Dunkelheit. »Du wirst für das Wasser zuständig sein. Du sorgst dafür, dass wir nie durstig sind, denn wenn ein Mann durstig ist, kann er nicht arbeiten.«
Pari schwieg.
»Vater hat recht«, sagte Abdullah, denn er ahnte, dass Pari sich die Hände schmutzig machen und durch den Matsch tollen wollte und die Aufgabe enttäuschend fand, die sein Vater ihr zugedacht hatte. »Wenn du uns kein Wasser holst, können wir das Gästehaus nicht bauen.«
Sein Vater schob den Stock unter den Henkel des Teekessels und nahm ihn zum Abkühlen vom Feuer.
»Weißt du was?«, sagte er. »Wenn du mir zeigst, dass du uns gut mit Wasser versorgen kannst, finde ich vielleicht noch eine andere Aufgabe für
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