Traumsammler: Roman (German Edition)
dich.«
Pari reckte das Kinn und sah mit strahlendem Zahnlückenlächeln zu Abdullah auf.
Abdullah erinnerte sich an die Zeit, als sie noch ein Baby gewesen war. Damals hatte sie auf seiner Brust geschlafen, und wenn er mitten in der Nacht die Augen aufgeschlagen hatte, hatte sie ihn mit genau diesem Gesichtsausdruck angelächelt.
Er war es, der sie aufzog. Ja, ganz genau. Obwohl er selbst noch ein Kind war. Ein Siebenjähriger. Wenn die winzige Pari gequengelt und gequäkt hatte, dann war er aufgestanden; er war es gewesen, der sie nachts herumgetragen und gewiegt hatte. Er hatte ihre schmutzigen Windeln gewechselt. Er hatte sie gebadet. Das war nicht die Aufgabe seines Vaters gewesen, denn dieser war ein erwachsener Mann und außerdem erschöpft von der Arbeit. Und Parwana, damals schon schwanger mit Omar, hatte sich nur selten dazu aufraffen können, sich um Pari zu kümmern. Sie hatte nicht die nötige Geduld und Kraft gehabt. Deshalb hatte Abdullah sich kümmern müssen, aber das machte ihm nichts aus. Er tat es frohen Herzens. Er fand es wunderbar, dass er Pari bei ihren ersten Schritten helfen, über das erste Wort staunen konnte, das sie sagte. Das, glaubte er, war sein Daseinszweck – Gott hatte ihn dazu auserkoren, sich um Pari zu kümmern, nachdem Er ihre Mutter zu sich geholt hatte.
»Baba«, sagte Pari. »Erzähl uns eine Geschichte.«
»Es ist schon spät«, erwiderte ihr Vater.
»Bitte.«
Ihr Vater war von Natur aus ein verschlossener Mensch. Er sprach nur selten mehr als zwei aufeinanderfolgende Sätze. Aber aus Gründen, die Abdullah nicht verstand, tat sich in seinem Vater manchmal etwas auf, und dann entströmten ihm Geschichten, und Abdullah und Pari hörten wie gebannt zu, während Parwana in der Küche lautstark mit den Töpfen hantierte. Dann erzählte er die Geschichten, die er als Kind von seiner Großmutter gehört hatte, Geschichten, die seine Kinder in eine von Sultanen und Dschinns, von bösen Dämonen und weisen Derwischen bevölkerte Welt versetzten. Manchmal erfand er auch Geschichten, erzählte sie aus dem Stegreif, und sie verrieten eine Phantasie und eine Begabung zum Träumen, die Abdullah immer wieder erstaunten. Wenn Abdullahs Vater etwas erzählte, war er ungewohnt lebhaft und zugewandt, offen und authentisch. Seine Geschichten schienen den Zuhörern einen Einblick in sein unergründliches, gut gehütetes Inneres zu gewähren.
Doch Abdullah konnte am Gesichtsausdruck seines Vaters ablesen, dass es an diesem Abend keine Geschichte geben würde.
»Es ist schon spät«, wiederholte sein Vater. Er wickelte sich den auf seinen Schultern liegenden Schal um die Hand und schenkte sich Tee ein. Er blies in den Dampf und trank einen Schluck. Sein Gesicht leuchtete im Feuerschein rötlich auf. »Zeit zum Schlafen. Der Tag morgen wird lang.«
Abdullah zog die Decke über seinen und Paris Kopf. Dann sang er, den Mund dicht an ihrem Nacken:
Ich fand eine kleine, traurige Fee
Im Schatten eines Baums am See.
Pari, schon schläfrig, ergänzte:
Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht.
Gleich darauf schnarchte sie leise.
Als Abdullah spätnachts erwachte, war sein Vater verschwunden. Er richtete sich erschrocken auf. Das Feuer war bis auf die schwelende Glut erloschen. Abdullahs Blick zuckte nach links und nach rechts, aber er konnte in der unendlichen und bedrängenden Finsternis nichts erkennen. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Sein Herz begann zu hämmern, und er hielt den Atem an und spitzte die Ohren.
»Vater?«, flüsterte er.
Stille.
Tief in seiner Brust keimte Panik auf. Er saß mucksmäuschenstill da, kerzengerade und angespannt, und horchte lange und vergeblich. Er war mit Pari allein, mitten im tiefen Dunkel. Sie waren im Stich gelassen worden. Sein Vater hatte sie verlassen. Abdullah verspürte zum ersten Mal, wie weit die Wüste, ja die ganze Welt tatsächlich war. Ihm wurde bewusst, wie leicht man sich darin verirren konnte, wenn es niemanden gab, der einem half und einem den Weg wies. Im nächsten Moment schoss ihm ein noch schlimmerer Gedanke durch den Kopf: Sein Vater war tot. Irgendjemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Räuber. Sie hatten ihn ermordet, und nun hatten sie Pari und ihn umzingelt und pirschten sich langsam an sie heran, machten sich einen Spaß aus der Sache.
»Vater?«, rief er wieder, dieses Mal mit schriller Stimme.
Keine Antwort.
»Vater?«
Er rief immer wieder nach seinem Vater, doch
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