Traumsammler: Roman (German Edition)
Gehsteig und zog sich den Rock über die Knie. Es war heiß, die Sonne schien regelrecht in die Haut zu beißen. Bis auf ein älteres Paar, das steifbeinig auf der Straße unterwegs war, war kaum jemand zu sehen. Der Mann, Demis Sowieso, trug eine flache, graue Mütze und ein braunes Tweedsakko, das eigentlich zu dick für die Jahreszeit war. Wie bei vielen alten Menschen, für die das Alter eine immer neue, böse Überraschung darzustellen scheint, waren seine Augen weit aufgerissen und seine Miene wie erstarrt. Ich kam erst Jahre später, während meines Medizinstudiums, darauf, dass er vielleicht an Parkinson litt. Sie winkten im Vorbeigehen, und ich winkte zurück. Ich sah, wie sie beim Anblick Thalias kurz innehielten und dann weitergingen.
»Hast du eine Kamera?«, fragte Thalia.
»Nein.«
»Hast du je ein Foto gemacht?«
»Nein.«
»Und du willst trotzdem Fotograf werden?«
»Findest du das etwa merkwürdig?«
»Ein bisschen.«
»Und wenn ich Polizist werden wollte? Fändest du das auch merkwürdig, weil ich noch nie jemandem Handschellen angelegt habe?«
Der sanfte Blick, der in ihre Augen trat, verriet mir, dass sie gelächelt hätte, wenn ihr das möglich gewesen wäre. »Aha, du bist ein kluger Esel«, sagte sie. »Ein guter Rat: Du solltest die Kamera vor meiner Mutter nicht erwähnen. Sonst kauft sie das Teil für dich, denn sie ist gefallsüchtig.« Sie tupfte weiter ihre Wange ab. »Ich bezweifele allerdings, dass Odelia das gutheißen würde. Na, das weißt du sicher selbst.«
Sie schien innerhalb kurzer Zeit vieles begriffen zu haben. Das überraschte mich, verunsicherte mich aber auch etwas. Vielleicht lag es an der Maske, dachte ich, daran, dass sie aus dieser Deckung heraus alles beobachten, verfolgen und ergründen konnte.
»Sie würde dich wahrscheinlich zwingen, sie zurückzubringen.«
Ich seufzte. Es stimmte. Mamá würde Gaben dieser Art nicht dulden, vor allem nicht, wenn Geld mit im Spiel war.
Thalia stand auf und klopfte sich den Staub vom Hintern. »Eine Frage: Hast du eine Schachtel zu Hause?«
* * *
Madaline trank mit Mamá ein Glas Wein in der Küche, und Thalia und ich malten oben einen Schuhkarton schwarz an. Der Karton gehörte Madaline und enthielt ein neues Paar gelbgrüner, hochhackiger Lederpumps, die noch in Papier eingewickelt waren.
»Wo um alles in der Welt wollte sie die tragen?«, fragte ich.
Unten war Madaline gerade dabei zu erzählen, wie sie beim Schauspielunterricht von einem Lehrer aufgefordert worden war, eine reglos auf einem Stein sitzende Eidechse zu spielen. Ein lautes und entzücktes Lachen war die Antwort – ihr eigenes.
Wir waren mit der zweiten Schicht fertig, und Thalia meinte, wir sollten noch eine dritte auftragen, damit auch ja alles bedeckt sei. Das Schwarz müsse gleichmäßig und ohne Makel sein.
»Das ist das ganze Geheimnis«, sagte sie. »Eine Kamera ist nur eine schwarze Kiste mit einem Loch für das Licht und etwas darin, dass das Licht absorbiert. Gib mir die Nadel.«
Ich reichte ihr eine von Mamás Nähnadeln. Ich hatte gelinde gesagt gewisse Zweifel an dieser Kamera Marke Eigenbau und glaubte nicht, dass sie funktionieren würde – ein Schuhkarton und eine Nadel? Aber Thalia hatte das Projekt so überzeugt und selbstsicher in Angriff genommen, als wäre die höchst unwahrscheinliche Möglichkeit eines Misserfolgs von vorneherein auszuschließen. Sie gab mir das Gefühl, viel mehr zu wissen als ich.
»Ich habe Berechnungen angestellt«, sagte sie und bohrte vorsichtig ein Loch in den Karton. »Ohne Linse können wir das Loch nicht auf der Schmalseite anbringen, weil der Karton zu lang ist. Aber die Breite haut hin. Das Loch muss nur den richtigen Durchmesser haben, ungefähr 0,6 Millimeter, denke ich. So. Jetzt brauchen wir einen Verschluss.«
Unten in der Küche war Madaline nun zum Flüstern übergegangen. Ich konnte nicht mehr verstehen, was sie sagte, hörte aber, dass sie langsamer und mit schärferer Betonung sprach, stellte mir vor, wie sie sich vorbeugte, die Ellbogen auf den Knien, und Mamá in die Augen sah, ohne zu blinzeln. Diese Tonlage ist mir inzwischen sehr vertraut. Wenn jemand so spricht, geht es meist um eine Enthüllung, eine Beichte, eine Bitte oder das Geständnis einer Katastrophe. Es ist die Tonlage, in der man darüber informiert wird, dass der Sohn gefallen ist, die Tonlage, mit der Rechtsanwälte ihren Klienten die Vorzüge des Plädoyers schmackhaft machen, die Tonlage ehebrecherischer
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