Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
Vom Netzwerk:
einen Ozean oder einen Kontinent, am besten durch beides, von ihr getrennt zu sein?
    »Die Junta hat keinen Sinn für Ironie«, sagte Madaline. »Menschen so fertigzumachen! Und das in Griechenland! Der Wiege der Demokratie. Ach, da seid ihr ja! Und? Wie war es? Was habt ihr unternommen?«
    »Wir haben am Strand gespielt«, sagte Thalia.
    »Hattet ihr Spaß?«
    »Es war toll«, sagte Thalia.
    Mamá sah Thalia und mich skeptisch an, aber Madaline spendete lautlos und strahlend Beifall. »Schön! Da ihr zwei euch jetzt so gut versteht, kann ich gelegentlich mit Odie allein sein. Wie findest du das, Odie? Wir haben einander so viel zu erzählen!«
    Mamá lächelte höflich und griff nach einem Kohlkopf.
    * * *
    Von nun an waren Thalia und ich uns selbst überlassen. Wir sollten die Insel erkunden, am Strand spielen, uns die Zeit vertreiben, wie man es von Kindern erwartet. Mamá packte jedem von uns ein Brot ein, und nach dem Frühstück brachen wir auf.
    Sobald wir außer Sichtweite waren, trennten wir uns oft. Am Strand angekommen, ging ich schwimmen oder lag mit nacktem Oberkörper auf den Felsen, und Thalia sammelte Muscheln oder ließ Steine über das Wasser springen, was nicht gut klappte, weil der Seegang zu stark war. Wir folgten den Wegen und Holperpfaden zwischen Weinbergen und Gerstenfeldern, jeder in sich versunken, den Blick auf den eigenen Schatten gesenkt. Wir wanderten viel. Damals gab es auf Tinos noch keinen Tourismus. Es war eine sehr ländliche Insel, deren Bewohner von Kühen und Ziegen, von Olivenbäumen und Getreide lebten. Wenn uns langweilig wurde, aßen wir im Schatten eines Baumes oder einer Windmühle stumm unser Brot, warfen einen Blick auf die Schluchten, die von Dornbüschen bestandenen Felder, die Berge, das Meer.
    Eines Tages machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Wir wohnten am südwestlichen Rand der Insel, und Tinos-Stadt war nur ein paar Kilometer entfernt. Dort gab es den kleinen Kramladen eines Witwers mit grobem Gesicht, der Roussos hieß. Sein Schaufenster war immer eine wahre Schatztruhe: Eine Schreibmaschine aus den vierziger Jahren, ein Paar lederne Arbeitsstiefel oder ein Gorilla aus Messing, eine Wetterfahne, ein Pflanzenständer, riesige Wachskerzen, Kruzifixe und natürlich Kopien der Ikone aus der Kirche Panagia Evangelistria. Herr Roussos war außerdem Amateurfotograf, und er hatte sich hinten im Laden eine provisorische Dunkelkammer eingerichtet. Im August, wenn die Pilger wegen der Ikone nach Tinos kamen, verkaufte Herr Roussos ihnen Filme und entwickelte die Fotos gegen ein Entgelt in seiner Dunkelkammer.
    Vor einem Monat hatte ich im Schaufenster seines Ladens eine Kamera entdeckt, die auf einer rotbraunen, abgewetzten Lederhülle lag. Ich ging alle paar Tage hin, um sie zu betrachten, und stellte mir vor, in Indien zu sein, die Kamera um den Hals, und Fotos der Teeplantagen und Reisfelder zu machen, die ich in National Geographic gesehen hatte. Ich würde den Inka-Pfad fotografieren. Ich würde auf dem Rücken eines Kamels, zu Fuß oder in einem staubigen Jeep reisen und der Hitze trotzen, bis ich endlich vor der Sphinx und den Pyramiden stand, und ich würde sie fotografieren, und dann würde man meine Fotos in Hochglanzmagazinen abdrucken. Diese Vorstellung lockte mich auch jetzt zu Herrn Roussos’ Laden – obwohl an diesem Vormittag geschlossen war. Ich wollte meine Stirn an der Scheibe plattdrücken und in Tagträumen versinken.
    »Welche Marke?«
    Ich zuckte zurück und erblickte Thalias Spiegelbild in der Scheibe. Sie tupfte ihre linke Wange mit einem Taschentuch ab.
    »Die Kamera.«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Eine Argus C3, glaube ich«, sagte sie.
    »Und woher willst du das wissen?«
    »Tja, ist seit schlappen dreißig Jahren die meistverkaufte 35-Millimeter-Kamera der Welt«, sagte sie etwas spöttisch. »Aber kein Schmuckstück. Sie ist hässlich. Sieht aus wie ein Backstein. Du willst also Fotograf werden? Wenn du groß bist, meine ich? Das erzählt jedenfalls deine Mutter.«
    »Mamá hat dir das gesagt?« Ich fuhr herum.
    »Ja, und?«
    Ich zuckte zusammen. Es war mir peinlich, dass Mamá mit Thalia darüber gesprochen hatte, und ich fragte mich, was sie erzählt hatte. Sie konnte mit ironischem Ernst von Dingen erzählen, die sie absurd oder prahlerisch fand. Sie konnte einem die Hoffnung nehmen, die eigenen Träume jemals zu verwirklichen. Markos will den ganzen Erdball umrunden und mit seiner Linse einfangen.
    Thalia setzte sich auf den

Weitere Kostenlose Bücher