Traumsammler: Roman (German Edition)
Häuser und Windmühlen, das Grün der Gerstenfelder, das matte Braun der zerklüfteten Berge, denen das ganze Jahr über zahlreiche Bäche entströmten. Mein Vater war auf einem dieser Berge gestorben. Er arbeitete in einem Marmorsteinbruch, und eines Tages – Mamá war im sechsten Monat schwanger mit mir – rutschte er aus und fiel dreißig Meter tief. Mamá sagte, er habe vergessen, die Auffanggurte anzulegen.
»Hör auf damit«, sagte Thalia.
Ich warf Steine in eine verzinkte Blechdose. Ich erschrak bei ihren Worten so sehr, dass ich danebenwarf. »Was geht dich das an?«
»Dir etwas vorzumachen, meine ich. Glaubst du, ich hätte Lust, hier herumzuhocken?«
Der Wind zerzauste ihr das Haar, und sie drückte sich die Maske auf das Gesicht. Ich fragte mich, wie lange sie schon mit der Furcht hatte leben müssen, dass ein Windstoß ihr die Maske abriss und sie ihr mit entblößtem Gesicht nachlaufen musste. Ich hielt den Mund und warf noch einen Stein, traf aber wieder nicht.
»Du bist ein Esel«, sagte sie.
Nach einer Weile stand sie auf, und ich tat so, als wollte ich noch bleiben. Als ich über die Schulter blickte, sah ich, wie sie über den Strand zur Straße ging. Ich zog meine Schuhe an und folgte ihr nach Hause.
Bei unserer Rückkehr zerkleinerte Mamá gerade Okra in der Küche, und Madaline lackierte sich die Fingernägel und rauchte, schnippte die Asche auf eine Untertasse. Ich zuckte entsetzt zusammen, als ich sah, dass die Untertasse zu dem Porzellanservice gehörte, das Mamá von ihrer Großmutter geerbt hatte. Es war das Einzige von Wert, was Mamá besaß, und sie holte es nur sehr selten aus dem Regal hoch oben an der Wand.
Madaline pustete zwischen den Zigarettenzügen auf ihre Fingernägel und erzählte von Pattakos, Papadopoulos und Makarezos, jenen drei Obersten, die im Frühjahr in Athen geputscht hatten – man nannte diesen Putsch den Putsch der Generäle. Sie erzählte, dass sie einen Theaterautor kenne, »einen ganz, ganz lieben Mann«, den man unter der Anklage verhaftet habe, ein subversiver Kommunist zu sein.
»Das ist natürlich Blödsinn! Absoluter Schwachsinn. Weißt du, wie die ESA die Leute zum Reden bringt?« Sie fragte es so leise, als würden im Haus Militärpolizisten lauern. »Sie schieben den Leuten einen Schlauch in den Hintern und drehen das Wasser voll auf. Das ist wahr, Odie, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Sie tränken Lumpen im ärgsten Dreck, in menschlichen Ausscheidungen, wenn du verstehst, was ich meine, und stopfen sie den Leuten in den Mund.«
»Wie grauenhaft«, antwortete Mamá tonlos.
Ich fragte mich, ob sie schon genug von Madaline hatte. Von der Flut ihrer platten politischen Meinungsäußerungen, den Berichten über Partys, die sie mit ihrem Mann besucht, und all den Dichtern, Intellektuellen und Musikern, denen sie mit Champagner zugeprostet hatte, der Aufzählung ihrer vielen sinnlosen Reisen in fremde Städte. Ihre immer wieder vorgebrachten Meinungen zu Nuklearkatastrophen, Überbevölkerung und Umweltverschmutzung. Mamá hatte Geduld mit Madaline und lächelte amüsiert, während diese plapperte, aber ich wusste, dass sie keine hohe Meinung von ihr hatte. Sie glaubte wohl, dass sie sich wichtigtun wollte, und ich nehme an, Madaline war ihr peinlich.
Genau dies trübt und mindert Mamás Güte, Hilfsbereitschaft und Mut: Sie fordert im Gegenzug einen Tribut. Bürdet dem anderen Verpflichtungen auf. Ihre Güte ist eine Währung, mit der sie sich Treue und Ergebenheit erkauft. Inzwischen kann ich verstehen, warum Madaline Tinos verließ. Das Seil, das vor dem Ertrinken rettet, kann zu einer Schlinge werden, die einen zu erdrosseln droht. Am Ende ist Mamá immer enttäuscht von den Menschen, so auch von mir. Man kann die Schuld nicht begleichen, in der man bei ihr steht, jedenfalls nicht wie von ihr erwartet. Mamás Trostpreis besteht in der grimmigen Befriedigung, die Oberhand behalten zu haben, von einer Warte strategischer Überlegenheit aus Urteile über andere fällen zu können – denn sie ist immer diejenige, der unrecht getan wurde.
Und das betrübt mich, weil es viel über Mamás Bedürfnisse verrät, über ihre Furcht vor der Einsamkeit, ihre Angst, im Stich gelassen zu werden, gestrandet zu sein. Und was sagt es über mich aus, dass ich dies über meine Mutter weiß, dass ich sehr wohl weiß, was sie braucht, ihr dies aber beharrlich und ganz bewusst vorenthalte, dass ich gut drei Jahrzehnte darauf geachtet habe, stets durch
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