Traumsammler: Roman (German Edition)
»Waagerecht«, sagte sie mit ihrer sonderbar feucht klingenden Stimme.
»Und was hast du als Gnomon benutzt?«
Thalia starrte Mamá an. »Eine Postkarte.«
Da merkte ich zum ersten Mal, dass die beiden einander verstanden.
»Sie hat ihre Spielzeuge immer auseinandergebaut, als sie klein war«, sagte Madaline. »Sie liebte mechanisches Spielzeug mit Rädern und Federn darin. Sie hat nicht damit gespielt – stimmt doch, Liebes, oder? Nein, sie hat all die teuren Spielzeuge aufgebrochen, sobald wir sie ihr gegeben haben. Ich habe mich immer schrecklich darüber aufgeregt. Aber Andreas, das muss ich ihm lassen, Andreas meinte, ich solle sie lassen. Er hielt es für den Ausdruck von Forschergeist.«
»Wir könnten eine bauen«, sagte Mamá. »Eine Sonnenuhr, meine ich.«
»Das kann ich schon.«
»Sei artig, Liebes«, sagte Madaline, die ein Bein ausstreckte und im Anschluss beugte, als würde sie einen Tanzschritt üben. »Tante Odie will nur nett sein.«
»Dann etwas anderes«, sagte Mamá. »Wir können auch etwas anderes bauen.«
»Oh! Oh!«, rief Madaline plötzlich aus und blies den Rauch aus. »Wie konnte ich das nur vergessen, Odie. Ich habe Neuigkeiten. Rate mal, welche.«
Mamá zuckte mit den Schultern.
»Ich trete wieder auf! In Filmen! Man hat mir eine Rolle angeboten, die Hauptrolle in einer großen Produktion. Ist das nicht unglaublich?«
»Glückwunsch«, sagte Mamá etwas lahm.
»Ich habe das Drehbuch dabei. Ich würde es dir geben, Odie, aber vielleicht gefällt es dir nicht, und das würde mich sehr treffen, das gestehe ich ganz offen. Das würde ich nicht verwinden. Findest du das schlimm? Drehbeginn ist im Herbst.«
* * *
Am nächsten Morgen nahm Mamá mich nach dem Frühstück beiseite. »Also: Was ist los mit dir? Was stimmt nicht?«
Ich tat so, als wüsste ich nicht, worauf sie anspielte.
»Lass das. Die dumme Verstellung. Das passt nicht zu dir.« Sie hatte diese Art, die Augen zusammenzukneifen und den Kopf ein klitzekleines bisschen zur Seite zu legen, eine Bewegung, die ihre Wirkung auf mich bis heute nicht verfehlt.
»Ich kann das nicht, Mamá. Bitte zwing mich nicht dazu.«
»Und warum nicht?«
Die Worte brachen einfach so aus mir heraus: »Sie ist ein Monster.«
Mamás Mund wurde sehr schmal. Sie sah mich nicht zornig, sondern so entmutigt an, als hätte ich sie all ihrer Kraft beraubt. Ihr Blick hatte etwas Deprimiertes. Resigniertes. Sie glich einer Bildhauerin, die Hammer und Meißel fallen lässt, weil sie merkt, dass der widerspenstige Stein sich nicht in die von ihr gewünschte Form bringen lässt.
»Diesem Mädchen ist etwas Furchtbares widerfahren. Nenn sie noch einmal so. Sag das noch ein einziges Mal, und du wirst sehen, was passiert.«
Kurz darauf lief ich mit Thalia über einen mit Kopfsteinen gepflasterten und von Steinmauern flankierten Weg. Ich achtete darauf, stets einige Schritte vor ihr zu gehen, damit Passanten – oder, was Gott verhüten mochte, Schulkameraden – nicht glaubten, dass wir zusammengehörten, aber dieser Eindruck ließ sich sowieso nicht vermeiden. Es war für alle offensichtlich. Ich hoffte jedoch, durch den Abstand wenigstens mein Zaudern und mein Missbehagen zum Ausdruck bringen zu können. Thalia bemühte sich zu meiner Erleichterung gar nicht erst, neben mir zu gehen. Wir trafen auf sonnenverbrannte, müde Bauern, die auf dem Heimweg vom Markt waren. Ihre Esel waren mit Weidenkörben beladen, die unverkaufte Ware enthielten, die Hufe klackerten auf den Steinen. Ich kannte die meisten Bauern, aber ich hielt den Blick gesenkt und sah sie nicht an.
Ich führte Thalia ans Meer. Ich wählte einen steinigen Strand aus, weil ich wusste, dass dort weniger los war als etwa in Agios Romanos. Ich krempelte die Hose hoch und sprang von einem zerklüfteten Felsen zum anderen, immer dicht am Ufer, wo die Wellen sich brachen und wieder ins Meer zurückrollten. Ich zog die Schuhe aus und steckte die Füße in einen Priel, der sich zwischen Steinen gebildet hatte. Ein Einsiedlerkrebs floh vor meinen Zehen. Ich sah, dass Thalia sich gleich rechts von mir auf einen Felsen gesetzt hatte.
Lange sahen wir schweigend zu, wie das Meer gegen die Felsen brandete. Der Wind pfiff mir um die Ohren, sprühte salzige Gischt in mein Gesicht. Ein Pelikan hing mit ausgebreiteten Schwingen über der blaugrünen See. Zwei Frauen standen nebeneinander im knietiefen Wasser, die Röcke hochgezogen. Ich konnte im Westen die Insel sehen, das leuchtende Weiß der
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