Traumsammler: Roman (German Edition)
Männer und von Polizisten, die um drei Uhr morgens vor der Tür stehen. Wie oft habe ich in Kabuler Krankenhäusern selbst in diesem Ton gesprochen? Wie oft habe ich Familien in einen ruhigen Raum geführt, sie gebeten, Platz zu nehmen, voller Angst vor dem bevorstehenden Gespräch einen Stuhl für mich herangezogen und allen Mut zusammengenommen, um ihnen die schlimme Nachricht mitzuteilen?
»Sie erzählt von Andreas«, sagte Thalia unbewegt. »Jede Wette. Sie hatten einen üblen Streit. Gib mir Klebeband und Schere.«
»Und wie ist er so? Abgesehen davon, dass er reich ist, meine ich?«
»Wer? Andreas? Er ist in Ordnung. Reist viel. Und wenn er zu Hause ist, hat er immer Gäste. Wichtige Leute, Minister, Generäle und so weiter. Sie nehmen einen Drink am Kamin und reden die ganze Nacht, meist über Geschäfte und Politik. Ich kann sie von meinem Zimmer aus hören. Ich muss oben bleiben, wenn Andreas Gäste hat. Ich darf nicht runtergehen. Aber er kauft mir Sachen. Er bezahlt einen Hauslehrer. Und er ist immer nett zu mir.«
Sie klebte ein rechteckiges Pappstück, das wir ebenfalls schwarz angemalt hatten, auf das Loch.
Unten war Stille eingetreten. Ich sah die Szene vor meinem inneren Auge. Die lautlos weinende Madaline, zerstreut ein Taschentuch zerknüllend, als wäre es ein Klumpen Knete, Mamá, die keine große Hilfe war, sondern ihre Freundin so verkniffen lächelnd anschaute, als hätte sie etwas Saures auf der Zunge. Mamá mag es nicht, wenn Menschen in ihrer Gegenwart weinen. Sie erträgt weder verquollene Augen noch flehentliche Gesichter. Weinen ist ihrer Ansicht nach ein Zeichen von Schwäche, ein aufdringlicher Schrei nach Aufmerksamkeit, und sie lässt sich darauf nicht ein. Sie kann sich nicht dazu durchringen, jemanden zu trösten. Ich habe während meiner Kindheit und Jugend erfahren, dass sie davon nicht viel hält. Trauer, meint sie, sei etwas Privates und dürfe nicht nach außen getragen werden. Als ich klein war, habe ich sie gefragt, ob sie nach dem Unfalltod meines Vaters geweint hat.
Bei seinem Begräbnis, meine ich, bei der Beerdigung.
Nein, ich habe nicht geweint.
Weil du nicht traurig warst?
Weil meine Trauer niemanden etwas anging.
Würdest du weinen, wenn ich tot wäre, Mamá?
Hoffen wir mal, dass das nicht passieren wird , sagte sie.
Thalia griff nach der Kiste mit Fotopapier und sagte: »Hol die Taschenlampe.«
Wir gingen in Mamás Schrankzimmer, schlossen die Tür fest zu und legten Handtücher vor den Spalt, um das Licht ganz zu dämmen. Als es stockfinster war, bat Thalia mich, die Taschenlampe anzuknipsen, die wir mehrmals mit rotem Zellophan umwickelt hatten. Ich konnte im roten Zwielicht nur die schlanken Finger Thalias erkennen, die einen Streifen Fotopapier abschnitt und gegenüber des Loches in den Karton klebte. Wir hatten das Papier am Tag zuvor im Laden von Herrn Roussos gekauft. Beim Eintreten hatte Herr Roussos Thalia über seine Brille hinweg angestarrt und gefragt: Ist das ein Überfall? Thalia hatte ihre Finger zur Pistole geformt und abgedrückt.
Thalia hob den Deckel auf den Schuhkarton und setzte die Pappe vor das Loch. Sie sagte im Dunkeln: »Morgen machst du das erste Foto deiner Karriere.« Ich fragte mich, ob sie mich auf den Arm nehmen wollte.
* * *
Wir entschieden uns für den Strand. Wir stellten den Schuhkarton auf einen flachen Stein und banden ihn mit einem Strick fest – Thalia meinte, wir müssten nach dem Öffnen des Verschlusses reglos dastehen. Sie trat neben mich und warf einen Blick über die Oberkante des Kartons, als würde sie durch einen Sucher schauen.
»Das wird ein super Foto«, sagte sie.
»Aber wir brauchen ein Motiv.«
Sie sah mich an, begriff, was ich meinte, und erwiderte: »Nein. Das tue ich nicht.«
Wir diskutierten eine Weile, und sie willigte schließlich ein, aber nur unter der Bedingung, dass ihr Gesicht nicht zu sehen war. Sie zog die Schuhe aus und balancierte vor der Kamera mit ausgebreiteten Armen über die Felsen. Sie ließ sich auf einem davon nieder und schaute nach Westen, Richtung Syros und Kythnos. Sie schüttelte ihre Haare so hin, dass sie die Bänder der Maske bedeckten, und warf mir über die Schulter einen Blick zu.
»Denk daran«, rief sie. »Bis einundzwanzig zählen.«
Ich guckte gebückt sitzend über den Karton, musterte Thalias Rücken, die Anordnung der sie umgebenden Felsen, die zwischen den Steinen klemmenden, an tote Schlangen erinnernden Seetangfetzen, den kleinen Schlepper,
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