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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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der in der Ferne vorbeidampfte, die Wellen, die sich am zerklüfteten Ufer brachen und zurückfluteten. Ich nahm den Verschluss vom Loch. Begann zu zählen.
    Ein. Zwei. Drei. Vier. Fünf.

    Wir liegen im Bett. Im Fernsehen sind zwei Akkordeonspieler zu einem Wettbewerb gegeneinander angetreten, aber Gianna hat den Ton ausgestellt. Es ist Mittag, und das Sonnenlicht dringt durch die Ritzen zwischen den Lamellen der Jalousie, fällt in Streifen auf die Reste der Pizza Margherita, die wir beim Roomservice bestellt haben. Ein großer, schlanker Mann mit makellos nach hinten gekämmten Haaren, schwarzer Krawatte und weißem Sakko hat sie uns gebracht. Auf dem Servierwagen, den er ins Zimmer schob, stand auch eine schmale Vase mit einer roten Rose. Er hob die Haube über der Pizza mit ausladender Bewegung und schwenkte die Hand wie ein Magier, der gerade ein Kaninchen unter dem Zylinder hervorgezaubert hat.
    Auf dem zerwühlten Bett liegen die Fotos, die ich Gianna gezeigt habe, Fotos der Reisen, die ich während der letzten anderthalb Jahre unternommen habe. Belfast, Montevideo, Tanger, Marseille, Lima, Teheran. Ich zeige ihr die Fotos von meinem kurzen Aufenthalt in einer Kopenhagener Kommune. Dort hatte ich mit dänischen Beatniks zusammengelebt, jungen Leuten mit löcherigem T-Shirt und Beanie-Mütze, die auf einer ehemaligen Militärbasis eine selbstverwaltete Gemeinschaft aufgebaut hatten.
    Und wo bist du? , fragte Gianna. Ich sehe dich auf keinem der Fotos.
    Ich bleibe lieber hinter der Linse , sage ich. Und das stimmt. Ich habe Hunderte Fotos aufgenommen, aber keines zeigt mich. Wenn ich die Fotos zum Entwickeln gebe, lasse ich von allen Bildern zwei Abzüge machen. Ich behalte ein Set, das andere schicke ich nach Hause, an Thalia.
    Gianna will wissen, wie ich meine Reisen finanziere, und ich erzähle ihr, dass ich etwas Geld geerbt habe. Was nur zum Teil stimmt, denn es ist nicht mein Erbe, sondern das von Thalia. Andreas bedachte sie in seinem Testament, im Gegensatz zu Madaline, die aus naheliegenden Gründen nichts bekam. Thalia gab mir die Hälfte ab. Ich sollte damit eigentlich mein Studium finanzieren.
    Acht. Neun. Zehn.

    Gianna stemmt sich auf die Ellbogen und beugt sich über das Bett, streift mich dabei mit ihren kleinen Brüsten. Sie greift nach der Schachtel, zündet sich eine Zigarette an. Ich bin ihr tags zuvor auf der Piazza di Spagna begegnet. Ich saß auf der Steintreppe, die den Platz mit der Kirche auf dem Hügel verbindet. Gianna kam auf mich zu und sprach mich auf Italienisch an, eines dieser vielen hübschen Mädchen, die ziellos um die Kirchen und Plätze Roms zu streifen schienen, die rauchten, laut redeten und viel lachten. Ich schüttelte den Kopf und sagte: Sorry . Sie lächelte, sagte Ah! , und fragte auf Englisch, mit schwerem Akzent: Feuerzeug? Zigarette. Ich schüttelte den Kopf und antwortete ebenfalls auf Englisch – und auch mit schwerem Akzent –, dass ich nicht rauchen würde. Sie grinste. Sie hatte flinke, strahlende Augen. Die Sonne des späten Vormittags ließ ihr rundes Gesicht leuchten wie einen Heiligenschein.
    Ich dämmere kurz ein, aber wache gleich wieder auf, als sie mich zart anstupst.
    La tua ragazza? Sie hat das Foto entdeckt, das Thalia am Strand zeigt, jenes Foto, das wir vor Jahren mit unserer selbstgebastelten Lochkamera aufgenommen haben. Deine Freundin?
    Nein , antworte ich.
    Deine Schwester?
    Nein.
    La tua cugina? Deine Cousine, si?
    Ich schüttele den Kopf.
    Sie starrt das Foto an, zieht hektisch an der Zigarette. Nein , sagt sie dann scharf und erstaunlich wütend. Questa è la tua ragazza! Deine Freundin. Ich glaube, ja, du bist Lügner! Und dann greift sie zu meinem Entsetzen zum Feuerzeug und will das Foto anzünden.
    Vierzehn. Fünfzehn. Sechzehn. Siebzehn.

    Auf halbem Weg zur Bushaltestelle fällt mir ein, dass ich das Foto vergessen habe. Ich sage, dass ich umkehren muss. Ich kann nicht anders. Ich muss zurück. Alfonso, ein drahtiger, schmallippiger huaso und unser inoffizieller chilenischer Führer, schaut Gary fragend an. Gary ist Amerikaner. Er ist das Alphamännchen in unserem Trio. Er hat schmutzig blondes Haar und Aknenarben auf den Wangen. Sein Gesicht zeugt von einem wilden Leben. Gary ist mies drauf, denn er hat Hunger, braucht dringend Alkohol und hat einen hässlichen Ausschlag auf der rechten Wade, weil er am Vortag einen Litre -Busch gestreift hat. Ich bin den beiden in einer überfüllten Bar in Santiago begegnet, und dort hat

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