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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Tochter diesen Namen gegeben?«
    Baba schaut zum Fenster, er streicht weiter über die Falte auf der Sessellehne.
    »Wissen Sie das noch, Abdullah? Warum dieser Name?«
    Er schüttelt den Kopf, fasst sich an die Strickjacke und zieht sie vor dem Hals zusammen, beginnt, rhythmisch zu murmeln und leise zu summen, ohne dabei groß die Lippen zu bewegen. Das ist seine übliche Reaktion, wenn er Angst bekommt, weil er um eine Antwort verlegen ist, wenn in seinem Kopf alles verschwimmt, wenn er von einer Welle wirrer Erinnerungen überflutet wird und verzweifelt darauf wartet, dass sich das Dunkel lichtet.
    »Abdullah? Was ist das?«, fragt Pari.
    »Nichts«, murmelt er.
    »Nein, ich meine das Lied, das Sie singen. Wie geht es?« 
    Er dreht sich hilflos zu mir um. Er ist ratlos.
    »Klingt wie ein Kinderlied«, sage ich. »Du hast erzählt, dass du es als Junge gelernt hast, weißt du nicht mehr? Von deiner Mutter.«
    »Ah.«
    »Singen Sie es mir vor?«, fragt Pari mit leicht erstickter Stimme. »Bitte, Abdullah – singen Sie es mir vor?«
    Er senkt den Kopf, schüttelt ihn langsam.
    »Komm schon, Baba«, sage ich freundlich und lege eine Hand auf seine knochige Schulter. »Alles ist gut.«
    Da singt Baba die zwei Verse mehrmals mit hoher, bebender Stimme und ohne den Kopf zu heben:
    Ich fand eine kleine, traurige Fee
    Im Schatten eines Baums am See.
    »Er meinte immer, es gebe noch zwei Verse«, sage ich zu Pari. »Aber er hat sie vergessen.«
    Pari Wahdati lacht unvermittelt auf, es klingt wie ein tiefer, kehliger Schrei, und sie legt sich eine Hand vor den Mund. » Oh, mon dieu «, flüstert sie und zieht die Hand weg. Dann singt sie auf Farsi:
    Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
    Die wurde vom Wind davongeweht.
    Baba legt die Stirn in Falten. Ich bilde mir ein, dass für den Bruchteil einer Sekunde etwas in seinen Augen aufleuchtet. Aber dann blinzelt er, und seine Miene wird wieder ausdruckslos. Er schüttelt den Kopf. »Nein. Nein, das kann nicht stimmen. So geht das Lied nicht weiter.«
    »Oh, Abdullah«, sagt Pari.
    Pari ergreift lächelnd und mit Tränen in den Augen Babas Hände, küsst sie und drückt sie dann gegen ihre Wangen. Baba grinst. Auch er bekommt feuchte Augen. Als Pari zu mir aufblickt, blinzelt sie die Freudentränen weg, und ich ahne, dass sie glaubt, seine Erinnerung geweckt, ihren verlorenen Bruder wie eine Märchenfee mit Hilfe des Liedchens herbeigezaubert zu haben. Sie glaubt, dass er sie erkennt, aber sie wird bald begreifen, dass er nur auf ihre warmherzige Berührung und ihre Zuneigung reagiert. Mit dem dumpfen Instinkt eines Tieres. Mehr steckt nicht dahinter. Das weiß ich mit schmerzhafter Gewissheit.
    * * *
    Ein paar Monate, bevor Dr. Bashiri mir die Nummer eines Hospizes gab, bin ich mit meiner Mutter in ein Hotel im Santa-Cruz-Gebirge gefahren. Meine Mutter mochte keine langen Urlaube, aber vor ihrer schweren Krankheit verreisten wir manchmal über ein Wochenende. Wir überließen das Restaurant Babas Obhut, und ich fuhr meine Mutter zur Bodega Bay, nach Sausalito oder San Francisco, wo wir jedes Mal in demselben Hotel beim Union Square wohnten. Wir machten es uns gemütlich, riefen den Roomservice und guckten Spielfilme. Später gingen wir dann zum Hafen – meine Mutter liebte typische Touristenorte –, aßen Eis und betrachteten die im Wasser planschenden Seelöwen, warfen den Straßenmusikern und den von Kopf bis Fuß bemalten Pantomimen ein paar Münzen hin. Wir schlenderten auch jedes Mal Arm in Arm durch das Museum of Modern Art, wo ich ihr die Werke von Rivera, Kahlo, Matisse und Pollock zeigte. Oder wir gingen in eine der Kinomatineen, die meine Mutter so gern mochte, und sahen zwei oder drei Filme am Stück, und wenn wir danach ins Freie traten, waren wir ganz benommen, und unsere Finger rochen nach Popcornfett.
    Mit meiner Mutter war es immer viel einfacher, weniger kompliziert als mit meinem Vater. Ich musste nicht die ganze Zeit auf der Hut sein, nicht ständig aufpassen, ja nichts Verletzendes zu sagen. Während unserer Wochenendurlaube hatte ich das Gefühl, auf einer Wolke zu schweben und alles, was mich bedrückte, weit unter mir zurückzulassen.
    Wir feierten das Ende einer weiteren Chemo – die letzte, wie sich herausstellen sollte. Das Hotel im Santa-Cruz-Gebirge war abgelegen, ruhig und wunderschön. Es hatte eine Kuranlage, ein Fitnesscenter, einen Fernsehraum, in dem man auch Gesellschaftsspiele spielen konnte, und einen Billardtisch. Wir bewohnten

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