Traumsammler: Roman (German Edition)
trug. Er ragte förmlich über mir auf, sah durch mich hindurch und hielt einen glänzenden Stock wie ein Zepter in beiden Händen. All das verlieh ihm eine imposante, ja unnahbare Ausstrahlung. Ich spürte, ohne dass er ein Wort gesagt hatte, dass er Gehorsam gewohnt war.
»Wie ich höre, ist meine Tochter nicht wohlauf«, sagte er.
Ich war ihm noch nie begegnet. »Ja, Sahib. Ich fürchte, das stimmt«, erwiderte ich.
»Dann aus dem Weg, junger Mann.« Er drängte sich an mir vorbei.
Ich hackte im Garten Holz für den Ofen, an einer Stelle, die einen guten Blick auf das Fenster von Nilas Schlafzimmer bot. Das Fenster rahmte ihren Vater ein, der sich zu seiner Tochter hinabbeugte, eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Nilas Miene war die eines Menschen, der von einem lauten, plötzlichen Krach wie dem eines explodierenden Böllers oder einer durch einen Windzug zuknallenden Tür erschreckt worden ist.
An diesem Abend aß sie etwas.
Einige Tage danach rief Nila mich ins Haus und sagte mir, sie wolle eine Party geben. Während Herrn Wahdatis Junggesellenzeit hatte es in diesem Haus so gut wie keine Partys gegeben, aber Nila feierte nach ihrem Einzug jeden Monat zwei oder drei. Am Tag vor einem solchen Fest bekam ich von ihr genaue Anweisungen bezüglich der Vorspeisen und Hauptgerichte, die ich zuzubereiten hatte, und ich fuhr zum Markt, um alles Nötige einzukaufen. Am wichtigsten war der Alkohol, den ich vorher nie gekauft hatte, weil Herr Wahdati nichts trank – nicht aus religiösen Gründen, sondern weil ihm die Wirkung zuwider war. Nila kannte sich dagegen bestens mit bestimmten Läden aus, die sie scherzhaft »Apotheken« nannte und in denen man unter der Hand und für einen Preis, der sich auf das Doppelte meines Monatsgehalts belief, eine Flasche »Medizin« erwerben konnte. Da ich durch diese Einkäufe zu einem Helfershelfer der Sünde wurde, erledigte ich sie mit gemischten Gefühlen, aber der Wunsch, Nila zu gefallen, war wie üblich stärker.
Sie müssen wissen, Mr Markos, dass in Shadbagh jede Feier, ob anlässlich einer Hochzeit oder einer Beschneidung, auf zwei Häuser verteilt war – eines für die Frauen, eines für die Männer. Doch bei Nilas Partys feierten alle zusammen. Fast alle Frauen trugen wie Nila Kleider, die den ganzen Arm und viel Bein freiließen. Sie rauchten nicht nur, sondern tranken auch, die Gläser halbvoll mit farblosen, roten oder kupferroten Spirituosen, und sie erzählten Witze, lachten und berührten Männer am Arm, deren Ehefrauen zugegen waren. Ich trug kleine Tabletts mit bolani und lola kabob durch den verqualmten Raum von einer Gästegruppe zur anderen, und die ganze Zeit liefen Schallplatten – keine afghanische Musik, sondern etwas, das Nila Jazz nannte, ein Stil, den Sie, Mr Markos, wie ich Jahrzehnte später erfahren sollte, auch schätzen. Das scheinbar willkürliche Klaviergeklimper und das sonderbare Trompetengejaule klang damals nicht gerade wie Musik in meinen Ohren. Aber Nila fand es herrlich, und ich bekam gelegentlich mit, wie sie Gästen diese oder jene Aufnahme ans Herz legte. Sie stellte ihr Glas, dem sie sich weit ausführlicher widmete als dem Essen, während des ganzen Abends kein einziges Mal ab.
Herr Wahdati kümmerte sich nur sporadisch um die Gäste. Zu Beginn des Abends mischte er sich, um guten Willen zu zeigen, unter die Leute, saß aber im weiteren Verlauf meist geistesabwesend mit einem Glas Wasser in der Ecke und setzte ein verkniffen höfliches Lächeln auf, wenn ihn jemand ansprach. Und er entschuldigte sich, sobald Nila von den Gästen gebeten wurde, ihre Gedichte vorzutragen.
Für mich war das der schönste Teil des Abends, und wenn sie anfing, suchte ich mir immer eine Beschäftigung in ihrer Nähe. Ich stand da wie angewurzelt, ein Tuch in der Hand, und spitzte die Ohren. Nilas Gedichte waren ganz anders als jene, mit denen ich aufgewachsen bin. Wir Afghanen lieben unsere Dichtung, und wie Sie wissen, können sogar ungebildete Menschen Verse von Hafiz oder Khayyam oder Saadi aufsagen. Im vergangenen Jahr haben Sie mir erzählt, wie sehr die Afghanen Ihnen ans Herz gewachsen sind, Mr Markos, wissen Sie noch? Als ich Sie fragte, warum, lachten Sie nur und sagten: Weil sogar eure Graffiti-Künstler Verse von Rumi auf die Mauern sprühen.
Nilas Gedichte brachen mit allen Traditionen. Sie hielten sich nicht an bestimmte Versmaße oder Reimschemata. Sie behandelten auch nicht die üblichen Themen wie Bäume, Frühlingsblumen oder
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