Traumsammler: Roman (German Edition)
Bulbul-Vögel. Nila schrieb stattdessen über die Liebe, und mit Liebe meine ich nicht die Sufi-Sehnsucht eines Rumi oder Hafiz, sondern körperliche Liebe. Sie erzählte von Liebenden, die im Bett miteinander flüstern und einander berühren. Sie schrieb über die Lust. Ich hatte noch nie eine solche Sprache aus dem Mund einer Frau gehört. Ich lauschte mit geschlossenen Augen und knallroten Ohren Nilas rauchiger, durch den Flur hallender Stimme und bildete mir ein, dass sie nur für mich allein lesen würde, dass wir die Liebenden in ihrem Gedicht wären, bis jemand nach Tee oder Rührei schrie und den Bann brach. Dann rief Nila nach mir, und ich eilte zu ihr.
An jenem Abend wählte sie ein Gedicht aus, das mich kalt erwischte. Es handelte von einem trauernden Ehepaar auf dem Land, dem die Eiseskälte des Winters das neugeborene Kind geraubt hatte. Dem Kopfnicken und bewundernden Gemurmel nach zu urteilen, gefiel das Gedicht den Gästen, und als sie laut applaudierten, sah Nila vom Papier auf. Doch ich war nicht nur überrascht, sondern auch etwas empört, weil sie das Unglück meiner Schwester benutzt hatte, um ihre Gäste zu unterhalten, und ich hatte das Gefühl, dass sie damit einen kleinen Verrat begangen hatte.
Einige Tage nach der Party sagte Nila, dass sie eine neue Geldbörse brauche. Herr Wahdati saß noch am Tisch, an dem ich ihm Linsensuppe und Naan-Brot serviert hatte und las Zeitung.
»Brauchst du auch etwas, Suleiman?«, fragte Nila.
»Nein, aziz . Danke«, antwortete er. Er redete sie meist mit aziz an, was so viel wie Liebling oder Schatz bedeutet, aber wenn er dieses Wort benutzte, schienen die beiden einander fremder zu sein denn je, und niemand sprach es so förmlich aus wie Herr Wahdati.
Während der Fahrt zum Geschäft sagte Nila, sie wolle eine Freundin abholen, und nannte mir die Adresse. Ich hielt am Straßenrand und sie stieg aus und ging auf dem Bürgersteig auf ein zweistöckiges Haus mit hellrosa Mauern zu. Ich ließ den Motor laufen, stellte ihn aber nach fünf Minuten aus. Und das war gut so, denn es dauerte zwei Stunden, bis ich Nilas schlanke Gestalt wieder auf das Auto zukommen sah. Ich hielt ihr die Tür auf, und als sie einstieg, konnte ich nicht nur ihr vertrautes Parfüm, sondern auch einen zweiten Duft ausmachen, Zedernholz mit einem Hauch Ingwer, eine Note, die mir schon bei der Party vor zwei Tagen in die Nase gestiegen war.
»Mir hat keine gefallen«, sagte Nila, die sich hinten im Auto den Lippenstift nachzog.
Als sie mein verwirrtes Gesicht im Rückspiegel sah, senkte sie den Lippenstift und betrachtete mich durch den Vorhang ihrer Wimpern. »Du hast mich zu zwei Geschäften gefahren, aber keine Geldbörse hat mir gefallen.«
Sie hielt meinem Blick stand und wartete ab, und ich begriff, dass sie mich in ein Geheimnis eingeweiht hatte. Sie stellte meine Treue auf die Probe. Sie forderte mich auf, eine Entscheidung zu treffen.
»Ich glaube, es waren sogar drei Geschäfte«, sagte ich lahm.
Sie grinste. » Parfois je pense que tu es mon seul ami , Nabi.«
Ich blinzelte.
»Das heißt: Manchmal glaube ich, dass du mein einziger Freund bist.«
Sie lächelte mich strahlend an, aber ich fühlte mich tief bedrückt.
Während des restlichen Tages erledigte ich meine Arbeit langsamer und freudloser als sonst. Als die anderen Männer abends zum Tee kamen, sang einer von ihnen Lieder für uns, aber auch das konnte mich nicht aufheitern. Ich fühlte mich, als wären mir Hörner aufgesetzt worden. Und ich glaubte felsenfest, dass meine Besessenheit von Nila endlich nachlassen würde.
Aber als ich am nächsten Morgen aufstand, war sie wieder da, erfüllte meine Hütte vom Fußboden bis zur Decke, durchtränkte wie ein Dunst die Wände und die Luft, die ich atmete. Ich konnte nichts dagegen tun, Mr Markos.
* * *
Ich weiß nicht mehr genau, wann die Idee Besitz von mir ergriff.
Vielleicht 1952, an einem windigen Herbstmorgen, als ich Nila Tee servierte. Ich wollte gerade ein Stück roat -Kuchen für sie abschneiden, als es im Radio, das auf der Fensterbank stand, hieß, dass man in diesem Jahr mit einem noch härteren Winter als im Vorjahr rechne. Gut möglich, dass es schon früher geschah, damals, als ich sie zu dem rosa Haus fuhr, oder an jenem Tag, als ich im Auto ihre Hand hielt, während sie schluchzte.
Doch ganz gleich, wann und wo – nachdem diese Idee in mir aufgekeimt war, ließ sie mich nicht mehr los.
Ich möchte vorausschicken, Mr Markos, dass ich bei
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