Traumsammler: Roman (German Edition)
anschaute, musste ich stets meine ganze Willenskraft aufbringen, um mich auf eine unverfänglichere Stelle ihres Körpers zu konzentrieren.
Je mehr Vertrauen sie zu mir fasste, desto öfter beklagte sie sich über Herrn Wahdati. So erzählte sie mir eines Vormittags, dass sie ihn als abweisend und arrogant empfinde.
»Er war überaus großzügig zu mir«, sagte ich.
Sie winkte verächtlich ab. »Bitte, Nabi. Das musst du nicht sagen.«
Ich senkte höflich den Blick. Sie hatte nicht unrecht. Herr Wahdati hatte zum Beispiel die Angewohnheit, mich beim Sprechen mit einer gewissen Überheblichkeit zu korrigieren, die man durchaus als Arroganz hätte auslegen können. Wenn ich sein Zimmer betrat und ihm einen Teller mit Süßigkeiten hinstellte, ihm frischen Tee einschenkte und den Tisch abwischte, war ich für ihn meist ebenso unsichtbar wie eine Fliege auf der Gittertür. Dann ließ er mich, ohne auch nur den Blick zu heben, zu einem Häufchen Nichts zusammenschrumpfen. Unter dem Strich war das aber nicht der Rede wert, denn ich kannte Leute in demselben Viertel – Leute, in deren Diensten auch ich einmal gestanden hatte –, die ihre Diener mit Gerten und Gürteln schlugen.
»Er hat keinen Sinn für Spaß oder Abenteuer«, sagte Nila und rührte lustlos im Kaffee. »Suleiman gleicht einem Greis, der im Körper eines jungen Mannes gefangen ist.«
Ihre nonchalante Offenheit verwirrte mich. »Ja, es ist wohl außergewöhnlich, wie sehr Herr Wahdati die Einsamkeit schätzt«, antwortete ich diplomatisch.
»Er sollte bei seiner Mutter leben. Was meinst du, Nabi? Ich finde, die beiden gäben ein gutes Paar ab.«
Die Mutter von Herrn Wahdati war eine fettleibige, pompöse Person, die mit einer großen Dienerschar und zwei Hunden in einem anderen Viertel der Stadt wohnte. Sie liebte ihre Hunde abgöttisch und behandelte sie, als würden sie weit über den Dienern stehen. Es waren kleine, abscheuliche, haarlose Geschöpfe, schreckhaft und ängstlich, die unerträglich schrill bellten. Ich mochte sie nicht, denn sobald ich das Haus betrat, sprangen sie an mir hoch.
Immer, wenn ich Nila und Herrn Wahdati zum Haus der alten Dame fuhr, konnte ich spüren, dass hinten im Auto dicke Luft herrschte, und Nilas schmerzhaft gerunzelte Stirn verriet mir, dass die beiden gestritten hatten. Ich weiß noch, dass meine Eltern immer so lange zankten, bis einer von ihnen eindeutig die Oberhand gewonnen hatte. So legten sie ihre Streitereien bei, damit diese nicht den normalen Tagesablauf vergifteten. Nicht so die Wahdatis. Ihre Streitereien endeten nicht, sondern lösten sich vielmehr auf wie ein Tintentropfen in Wasser und hinterließen einen bitteren Nachgeschmack.
Es gehörte nicht viel dazu, um zu erahnen, dass sich die Mutter von Herrn Wahdati gegen diese Verbindung ausgesprochen hatte und dass Nila dies wusste.
Während meiner Gespräche mit Nila fragte ich mich ständig, warum sie Herrn Wahdati geheiratet hatte, aber ich hatte nicht den Mut, sie direkt zu fragen. Ein solcher Verstoß gegen Anstand und Sitte wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Ich konnte nur vermuten, dass die Ehe – sogar eine so offensichtlich unglückliche – für manche Menschen, gerade für Frauen, eine Flucht vor noch größerem Unglück war.
Eines Tages, es war im Herbst 1950, rief Nila mich zu sich und sagte: »Bitte fahr mit mir nach Shadbagh.« Sie fügte hinzu, dass sie gern meine Familie und meinen Heimatort kennenlernen wolle. Ich würde ihr, sagte sie, seit einem Jahr das Essen servieren und sie durch Kabul fahren, aber sie kenne mich kaum. Diese Bitte stürzte mich, gelinde gesagt, in tiefe Verwirrung, denn die weit entfernt lebende Familie eines Dieners kennenlernen zu wollen, war ein ungewöhnlicher Wunsch für jemanden von Nilas Stand. Es freute mich zwar, dass sie so großes Interesse an mir zeigte, aber ich hatte Angst, mich unwohl zu fühlen oder zu schämen, wenn sie sah, in welche Armut ich hineingeboren worden war.
Wir brachen an einem bewölkten Morgen auf. Sie trug hochhackige Schuhe und ein pfirsichfarbenes, ärmelloses Kleid, aber mir stand es nicht zu, sie davon abzubringen. Sie stellte mir unterwegs Fragen nach dem Dorf und meinen dortigen Bekannten, nach meiner Schwester, Saboor und deren Kindern.
»Wie heißen sie?«
»Abdullah wird bald neun«, antwortete ich. »Seine Mutter ist im letzten Jahr gestorben, er ist der Stiefsohn meiner Schwester Parwana. Pari, seine Schwester, wird bald zwei. Im letzten Winter hat Parwana
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