Traumsammler: Roman (German Edition)
All das lastet schwer auf mir. So viele Jahre sind vergangen, und es lastet immer noch auf mir, Mr Markos.
* * *
Pari war damals fast vier, und obwohl sie noch so klein war, hatte sie bestimmte Angewohnheiten, die sie ablegen musste. So war sie angehalten, mich nicht mehr Kaka Nabi, sondern nur noch Nabi zu nennen, und ihre Fehler wurden immer wieder behutsam korrigiert, auch von mir, bis sie am Ende glaubte, dass wir keine Verwandten waren. Ich wurde für sie zu Nabi, dem Koch, und Nabi, dem Chauffeur. Nila wurde zu »Maman«, Herr Wahdati zu »Papa«. Nila gab ihr Unterricht in Französisch, der Sprache ihrer Mutter.
Herr Wahdati hatte Pari sehr kühl aufgenommen, aber das änderte sich bald, denn Paris tränenreiches Heimweh und ihre Angst hatten etwas Entwaffnendes. Pari begleitete uns nach kurzer Zeit auf unseren morgendlichen Spaziergängen. Herr Wahdati setzte sie in einen Kinderwagen und schob sie durch das Viertel. Oder er saß mit ihr auf dem Schoß hinter dem Lenkrad des Autos und lächelte geduldig, während sie hupte. Bei einem Tischler gab er ein Rollbett mit drei Schubladen, eine Spielzeugkiste aus Ahornholz und einen kleinen, schmalen Sekretär in Auftrag. Er ließ alle Möbel in Paris Zimmer gelb lackieren, weil Gelb ihre Lieblingsfarbe war. Und eines Tages sah ich, wie er im Schneidersitz vor dem Sekretär saß, Pari neben sich, und die Klappe sehr gekonnt mit Giraffen und langschwänzigen Affen bemalte. Es sagt wohl viel über sein Wesen aus, Mr Markos, wenn ich Ihnen schreibe, dass ich erst jetzt, nach all den Jahren, in denen ich ihn zeichnen sah, einen Eindruck von seiner künstlerischen Arbeit bekam.
Paris Gegenwart hatte unter anderem zur Folge, dass die Wahdatis zum ersten Mal so etwas wie eine richtige Familie waren. Nila und ihr Mann, durch ihre Zuneigung zu Pari verbunden, aßen jetzt immer gemeinsam. Sie gingen mit Pari in einen nahen Park und saßen dort zufrieden auf einer Bank, während sie ihr beim Spielen zuschauten. Wenn ich ihnen abends, nachdem ich den Tisch abgeräumt hatte, den Tee servierte, las einer von beiden Pari, die auf ihrem Schoß lag, aus einem Kinderbuch vor. Mit jedem Tag, der verstrich, schwand Paris Erinnerung an ihr Leben in Shadbagh und die Menschen dort mehr.
Paris Gegenwart hatte aber auch für mich eine unerwartete Folge: Ich trat mehr in den Hintergrund. Halten Sie von mir, was Sie wollen, Mr Markos, und bedenken Sie, dass ich ein junger Mann war, aber ich muss gestehen, dass ich mir Hoffnungen machte, auch wenn diese närrisch waren. Ich hatte Nila immerhin dazu verholfen, Mutter zu werden. Ich hatte herausgefunden, warum sie unglücklich war, und ihr ein Gegenmittel verschafft. Bildete ich mir etwa ein, wir würden jetzt eine Beziehung anfangen? Nein, so dumm war ich wohl nicht, Mr Markos, aber das ist nicht die ganze Wahrheit – in Wahrheit, so würde ich behaupten, hofft jeder darauf, wider jede Wahrscheinlichkeit etwas ganz Außergewöhnliches zu erleben.
Was ich nicht vorhergesehen hatte, war das Ausmaß, in dem ich in den Hintergrund trat. Nila war jetzt die ganze Zeit mit Pari beschäftigt. Unterricht, Spielen, Mittagsschlaf, Spaziergänge, wieder Spielen. Unsere täglichen Gespräche kümmerten zu kurzen Wortwechseln. Wenn die beiden mit Bauklötzen spielten oder vor einem Puzzle saßen, bemerkte Nila mich kaum, wenn ich ihr den Kaffee brachte. Sie nahm überhaupt nicht wahr, dass ich noch im Raum war. Wenn wir uns unterhielten, war sie abgelenkt und immer darauf bedacht, das Gespräch möglichst kurz zu halten. Im Auto setzte sie eine abweisende Miene auf. Ich schäme mich zwar dafür, muss aber gestehen, dass ich deshalb einen gewissen Groll gegen meine Nichte entwickelte.
Die Vereinbarung mit den Wahdatis sah vor, dass Paris Familie nicht in Kabul zu Besuch kommen durfte. Jeder Kontakt mit ihnen war verboten. Eines Tages, kurz nachdem Pari bei den Wahdatis eingezogen war, fuhr ich nach Shadbagh. Ich hatte Mitbringsel für Abdullah und Iqbal dabei, den kleinen Sohn meiner Schwester, der damals die ersten Schritte tat.
Saboor sagte unverblümt: »Du hast deine Geschenke verteilt. Zeit, dass du wieder fährst.«
Ich sagte ihm, dass ich nicht verstehen würde, warum er mich so eisig empfing, so unfreundlich zu mir war.
»Doch, du verstehst es ganz genau«, sagte er. »Und fühl dich bitte nicht zu weiteren Besuchen verpflichtet.«
Er hatte recht; ich verstand. Unser Verhältnis war nicht mehr unbeschwert. Die Stimmung während meines
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