Traumsammler: Roman (German Edition)
einen Jungen namens Omar geboren, aber er ist gestorben, als er gerade mal zwei Wochen alt war.«
»Und woran?«
»Am Winter, Bibi Sahib. Er sucht das Dorf einmal im Jahr heim und raubt immer ein oder zwei Kinder. Man kann nur hoffen, dass die eigene Familie verschont bleibt.«
»Mein Gott«, murmelte sie.
»Aber ich kann zum Glück sagen, dass meine Schwester schon wieder in freudiger Erwartung ist«, fügte ich hinzu.
Im Dorf wurden wir wie üblich von einer Horde barfüßiger Kinder empfangen, die dem Wagen nachrannten, aber als Nila ausstieg, verstummten sie und wichen zurück, vielleicht aus Angst, von ihr gescholten zu werden. Doch Nila erwies sich als überaus geduldig und freundlich. Sie beugte sich zu den Kindern herunter, lächelte, sprach mit jedem von ihnen und schüttelte Hände, strich über dreckige Wangen, zerzauste ungewaschene Haare. Es war mir peinlich, dass die Menschen zusammenströmten, um sie zu begaffen. Baitullah, ein alter Jugendfreund, hockte mit seinen Brüdern hinter dem Rand eines Daches, krähengleich und naswar -Tabak kauend. Sein Vater, Mullah Shekib, saß mit drei anderen Weißbärten im Schatten einer Mauer. Alle vier ließen die Gebetsketten lustlos durch die Finger gleiten, den Blick mit tiefem Missfallen auf Nila und ihre nackten Arme gerichtet.
Ich stellte Nila und Saboor einander vor, und danach gingen wir, gefolgt von einer Schar Schaulustiger, zu dem kleinen Lehmziegelhaus, das er mit Parwana bewohnte. Nila bestand darauf, vor dem Eintreten ihre Schuhe auszuziehen, obwohl Saboor sagte, das sei nicht nötig. Beim Betreten des Raumes bemerkte ich die stumme, zusammengekrümmte und wie erstarrt in einer Ecke sitzende Parwana. Als sie Nila begrüßte, flüsterte sie beinahe.
Saboor wandte sich an Abdullah. »Bring uns einen Tee, Junge.«
»Oh, bitte keine Umstände«, sagte Nila, die sich neben Parwana auf den Fußboden setzte. »Das muss nicht sein.« Doch Abdullah war schon im Nebenraum verschwunden, der nicht nur als Küche, sondern auch als Schlafplatz für Pari und ihn diente. Eine milchige, mit Nägeln auf der Schwelle befestigte Plastikplane trennte die Küche von dem Raum, in dem wir uns versammelt hatten. Ich spielte mit den Autoschlüsseln und wünschte mir, den Besuch bei meiner Schwester angekündigt zu haben, weil sie dann noch hätte putzen können. Die rissigen Lehmwände waren schwarz vor Ruß, die kaputte Matratze, auf der Nila saß, war verstaubt, das einzige Fenster voller Fliegendreck.
»Ein wunderschöner Teppich«, sagte Nila fröhlich und strich mit den Fingern darüber. Er hatte ein Muster in Form von Elefantenfüßen, war feuerrot und der einzige wertvolle Besitz Saboors und Parwanas. Noch im selben Winter mussten sie ihn aus Geldnot verkaufen.
»Er gehörte meinem Vater«, sagte Saboor.
»Ein turkmenischer Teppich?«
»Ja.«
»Ich finde die Schafwolle wunderbar, die sie verwenden. Ihre Handwerkskunst ist unglaublich.«
Saboor nickte mit abgewandtem Blick. Er sah sie nicht einmal an, wenn er etwas zu ihr sagte.
Die Plastikplane öffnete sich klatschend, und Abdullah trat mit einem Tablett voller Teetassen ein, das er vor Nila abstellte. Er schenkte ihr ein und ließ sich ihr gegenüber im Schneidersitz nieder. Nila versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, ihn mit einigen simplen Fragen aus sich herauszulocken, aber Abdullah nickte nur mit dem geschorenen Kopf, gab einsilbige Antworten und sah sie wachsam aus seinen braungrünen Augen an. Ich nahm mir vor, ihn später für seine schlechten Manieren zu schelten. Natürlich auf eine freundliche Art, denn der Junge hatte ein ernsthaftes und umgängliches Wesen, und ich mochte ihn.
»In welchem Monat sind Sie?«, fragte Nila Parwana.
Meine Schwester antwortete mit gesenktem Kopf, dass sie das Kind im Winter erwarte.
»Sie sind gesegnet«, sagte Nila. »Denn Sie erwarten ein Kind. Und Ihr Stiefsohn ist so nett und höflich.« Sie schenkte Abdullah ein Lächeln, doch er verzog keine Miene.
Parwana murmelte so etwas wie ein Dankeschön.
»Gibt es nicht auch noch ein kleines Mädchen?«, fragte Nila. »Pari?«
»Sie schläft gerade«, sagte Abdullah kurz angebunden.
»Ah. Sie soll ja ganz bezaubernd sein.«
»Hol deine Schwester«, sagte Saboor.
Abdullah musterte zuerst seinen Vater, dann Nila und erhob sich dann mit sichtlichem Zögern.
Hätte ich den Wunsch verspürt, meine Hände in Unschuld zu waschen – und sei es jetzt, zu diesem späten Zeitpunkt –, so würde ich behaupten,
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