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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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dass Abdullah eine ganz normale Beziehung zu seiner kleinen Schwester hatte. Aber so war es nicht. Gott allein weiß, warum die beiden einander erwählt hatten. Es war mir ein Rätsel. Nie habe ich zwischen zwei Geschöpfen eine solche Seelenverwandtschaft gespürt. Abdullah war in Wahrheit nicht nur Paris Bruder, nein, er war ihr auch ein Vater. Wenn sie als Säugling schrie, stand er mitten in der Nacht von seinem Lager auf und beruhigte sie. Er war es, der ihre schmutzigen Windeln wechselte, sie in den Schlaf wiegte, auf den Arm nahm. Er hatte eine Engelsgeduld mit ihr. Er trug sie durch das Dorf und zeigte sie herum, als wäre sie der kostbarste Besitz auf der ganzen Welt.
    Als er die verschlafene Pari hereinbrachte, bat Nila darum, sie in den Arm nehmen zu dürfen. Abdullah reichte sie ihr mit einem Blick, aus dem ein so tiefes Misstrauen sprach, als würde er eine unmittelbare Gefahr wittern.
    »Oh, wie süß«, rief Nila, deren ungeschicktes Wiegen verriet, dass sie keine Erfahrung mit Kleinkindern hatte. Pari schaute verwirrt zu Nila auf. Dann sah sie zu Abdullah und begann zu weinen. Er nahm sie Nila sofort wieder ab.
    »Diese Augen!«, sagte Nila. »Oh, und diese Wangen! Sie ist unglaublich süß, nicht wahr, Nabi?«
    »Das stimmt, Bibi Sahib«, sagte ich.
    »Und ihr Name passt so gut zu ihr. Pari. Sie ist tatsächlich so hübsch wie eine Fee.«
    Abdullah, der Pari wiegte, betrachtete Nila mit immer finsterer Miene.
    Auf der Rückfahrt nach Kabul saß Nila zusammengesunken auf der Rückbank, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Sie schwieg, und dann begann sie plötzlich zu weinen.
    Ich hielt am Straßenrand an.
    Sie sprach sehr lange kein einziges Wort. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte mit bebenden Schultern. Irgendwann zog sie ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Danke, Nabi«, sagte sie.
    »Wofür, Bibi Sahib?«
    »Für diese Fahrt. Ich empfinde es als Ehre, deine Familie kennengelernt haben zu dürfen.«
    »Meine Familie fühlt sich geehrt. Und ich mich auch.«
    »Die Kinder deiner Schwester sind wunderbar.« Sie hob die Sonnenbrille und tupfte sich die Augen.
    Ich wollte zunächst nichts sagen, aber da sie Vertrauen gezeigt und in meiner Gegenwart geweint hatte, fühlte ich mich verpflichtet, sie aufzumuntern. Ich sagte sanft: »Sie werden bald eigene Kinder haben, Bibi Sahib. Gott wird dafür sorgen – Inshallah. Warten Sie ab.«
    »Das bezweifele ich. Selbst Gott kann mir nicht helfen.«
    »Aber natürlich, Bibi Sahib. Sie sind noch so jung. Wenn es sein Wunsch ist, wird es geschehen.«
    »Du verstehst nicht«, sagte sie müde. Ich hatte sie noch nie so erschöpft, so ausgelaugt erlebt. »Ich kann keine Kinder bekommen. Man hat mir in Indien alles entfernt. Ich bin innen wie ausgehöhlt.«
    Was sollte ich darauf antworten? Ich hätte mich am liebsten neben sie gesetzt, sie in die Arme genommen und mit Küssen bedeckt. Bevor ich mich versah, drehte ich mich zu ihr um und ergriff ihre Hand. Ich glaubte, sie würde zurückzucken, aber sie drückte dankbar meine Finger. Wir blieben im Auto sitzen, ohne einander anzuschauen, und betrachteten die Ebene, die sich gelblich und öde von Horizont zu Horizont erstreckte, gefurcht von ausgedörrten Bewässerungskanälen, gesprenkelt mit Büschen und Felsen. Gelegentlich regte sich so etwas wie Leben. Ich ließ den Blick über Hügel und Strommasten schweifen. In der Ferne sah ich einen mit Frachtgut beladenen Lkw, der eine Staubwolke hinter sich herzog. Ich wäre am liebsten so sitzen geblieben, bis der Abend heraufgezogen wäre.
    »Fahr mich nach Hause«, sagte sie schließlich und ließ meine Hand los. »Ich möchte heute früh schlafen gehen.«
    »Sehr wohl, Bibi Sahib.« Ich räusperte mich und legte mit leicht zitternder Hand den ersten Gang ein.
    * * *
    Zu Hause ging sie sofort in ihr Schlafzimmer im ersten Stock und kam tagelang nicht mehr zum Vorschein. Manchmal setzte sie sich vor dem Fenster auf einen Stuhl, um zu rauchen, wippte dabei mit dem Fuß und starrte teilnahmslos ins Leere. Sie sprach kein Wort und behielt die ganze Zeit dasselbe Nachthemd an. Sie weigerte sich zu baden, sich die Zähne zu putzen oder die Haare zu waschen, und sie nahm keinen Bissen zu sich, was bei Herrn Wahdati eine sehr untypische Besorgnis auslöste.
    Am vierten Tag klopfte jemand an das Eingangstor. Als ich öffnete, stand ein hochgewachsener, älterer Herr vor mir, der einen frisch gebügelten Anzug und polierte Schuhe

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