Traumsammler: Roman (German Edition)
Schublade auf. Sie enthielt nur Tabletten, seine Lesebrille, eine alte Flasche mit Kölnisch Wasser, einen Notizblock und Kohlestifte, die er seit einem Jahr nicht mehr angerührt hatte. Ich wollte ihn schon fragen, was er wollte, als ich das Gesuchte unter dem Notizblock fand – einen Umschlag, darauf mein Name in Suleimans krakeliger Handschrift. Er enthielt einen Zettel mit einem einzigen Absatz. Ich las ihn.
Danach senkte ich meinen Blick auf Suleiman, seine hohlen Augen, seine eingefallenen Wangen.
Er winkte mich zu sich, und ich beugte mich über ihn. Ich spürte seinen heiseren, unregelmäßigen Atem auf der Wange. Ich konnte hören, wie seine Zunge im ausgedörrten Mund arbeitete, während er versuchte, sich zu sammeln. Irgendwie, vielleicht durch schiere Willenskraft, schaffte er es, mir etwas ins Ohr zu flüstern.
Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte einen Kloß im Hals und musste versuchen, ihm irgendwie zu antworten.
»Nein. Bitte nicht, Suleiman.«
Du hast es versprochen.
»Noch nicht. Ich pflege dich wieder gesund. Du wirst sehen. Wir stehen das noch einmal durch.«
Du hast es versprochen.
Wie lange saß ich neben ihm? Wie lange versuchte ich, ihn umzustimmen? Ich weiß es nicht mehr, Mr Markos. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann aufstand, um das Bett ging und mich neben ihn legte. Ich drehte ihn so hin, dass er mir das Gesicht zuwandte. Er fühlte sich federleicht an. Ich gab ihm einen Kuss auf die trockenen, rissigen Lippen. Ich schob ein Kissen zwischen meine Brust und sein Gesicht und zog ihn dann am Hinterkopf an mich heran. Ich hielt ihn lange und fest in den Armen.
Ich kann mich nur noch an den Anblick seiner geweiteten Pupillen erinnern.
Dann setzte ich mich vor das Fenster. Vor meinen Füßen stand noch das Tablett mit Suleimans Tee. Wenn ich mich nicht irre, war es ein sonniger Morgen. Die Läden würden bald öffnen, falls sie nicht längst geöffnet hatten. Kleine Jungen gingen zur Schule. Staubwolken wirbelten auf. Ein Hund, dessen Kopf von Moskitos umschwirrt wurde, lief gemächlich auf der Straße dahin. Ich beobachtete zwei junge Männer, die auf einem Motorrad vorbeifuhren. Der Mann, der hinten saß, balancierte einen Computerbildschirm auf der einen, eine Wassermelone auf der anderen Schulter.
Ich lehnte meine Stirn gegen die warme Fensterscheibe.
* * *
Der Zettel in Suleimans Schublade war sein Testament, in dem er mir alles vermachte: Das Haus, sein Geld, seinen persönlichen Besitz, sogar das Auto, dessen Überreste immer noch hinten im Garten standen, ein zerfallender Haufen rostigen Blechs mit platten Reifen.
Ich war lange ratlos. Was sollte ich tun? Ich hatte mich über ein halbes Jahrhundert um Suleiman gekümmert. Mein Alltag war durch seine Bedürfnisse, seine Gegenwart bestimmt gewesen. Ich konnte jetzt tun und lassen, was ich wollte, aber wie ich rasch merkte, war diese Freiheit eine Illusion, denn was ich mir am meisten wünschte, war mir längst genommen worden. Man soll einen Sinn im Dasein finden, heißt es, und dann leben, aber manchmal stellt man erst im Alter fest, dass das eigene Leben tatsächlich einen Sinn gehabt hat – wenn auch nicht den, den man sich vorgestellt hat. Und nun, da der Sinn meines Lebens erfüllt war, fühlte ich mich ziellos und haltlos.
Ich fand im Haus keinen Schlaf mehr. Ich hielt es kaum noch darin aus. Ohne Suleiman schien es mir viel zu groß. Außerdem weckten jede Ecke, jeder Winkel Erinnerungen. Also zog ich wieder in meine alte Hütte, hinten im Garten. Ich ließ den Stromanschluss reparieren, damit ich Licht zum Lesen hatte und im heißen Sommer einen Ventilator anschließen konnte. Ich brauchte nicht viel Platz. Meine Habseligkeiten beschränkten sich auf ein Bett, ein paar Kleider und den Karton mit Suleimans Zeichnungen. Das mag ihnen komisch vorkommen, Mr Markos, denn das Haus und alles, was sich darin befand, waren ganz legal in meinen Besitz übergegangen, aber ich empfand mich nicht als rechtmäßiger Eigentümer und wusste auch, dass ich in diese Rolle nie hineinwachsen würde.
Ich las recht viel, meist Bücher aus Suleimans Arbeitszimmer. Wenn ich eines zu Ende gelesen hatte, stellte ich es zurück. Ich pflanzte Tomaten und ein wenig Minze. Ich ging im Viertel spazieren, aber meine Knie taten mir meist schon nach wenigen Schritten weh, so dass ich umkehren musste. Ich stellte mir manchmal einen Stuhl in den Garten und saß müßig da. Ich war nicht wie Suleiman. Die Einsamkeit bekam mir
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