Traumsammler: Roman (German Edition)
Nachbarschaft packten ihre Sachen und flohen nach Pakistan oder Iran. Sie hofften, irgendwann im Westen ein neues Leben anzufangen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sich Herr Bashiri von uns verabschiedete. Ich gab ihm die Hand und wünschte ihm alles Gute. Ich verabschiedete mich auch von seinem Sohn Idris, der inzwischen zu einem schlaksigen Vierzehnjährigen mit langen Haaren und zartem Flaum über der Oberlippe aufgeschossen war. Ich sagte Idris, dass ich ihn und seinen Cousin Timur, die in unserer Straße immer zusammen Drachen steigen ließen und Fußball spielten, sehr vermissen würde. Vielleicht erinnern Sie sich, Mr Markos, dass wir die beiden Jahre später auf einem Fest, das Sie im Frühjahr 2003 gaben, wiedergesehen haben. Da waren sie längst erwachsen.
Erst während der 90er brachen die Kämpfe innerhalb der Stadtgrenzen aus, und Kabul fiel Männern in die Hände, die aussahen, als wären sie schon mit einer Kalaschnikow in der Hand zur Welt gekommen, allesamt Vandalen, Räuber und Waffennarren mit großspurigen Titeln, die sie sich selbst verliehen hatten. Als die ersten Raketen abgefeuert wurden, bestand Suleiman darauf, im Haus zu bleiben, und weigerte sich zu fliehen. Er sträubte sich hartnäckig gegen jede Information über das, was sich außerhalb seines Hauses abspielte. Er zog den Stecker des Fernsehers. Er hörte kein Radio. Er las keine Zeitung. Er bat mich, die Kämpfe mit keinem Wort zu erwähnen. Er hatte keine Ahnung, wer gegen wen focht, wer gewann oder verlor, als hoffte er, dass der Krieg gnädig zu ihm wäre, wenn er ihn beharrlich ignorierte.
Das war natürlich ein Irrtum. Unsere Straße, früher so ruhig, elegant und wohlhabend, wurde zum Kriegsgebiet. Alle Häuser wurden von Kugeln getroffen. Raketen heulten über den Dächern. Panzerfaustgranaten rissen Löcher in den Asphalt. Die Nacht wurde bis zur Morgendämmerung von roten und weißen Leuchtspurgeschossen zerrissen. An manchen Tagen konnten wir ein wenig durchatmen, dann herrschte für ein paar Stunden Ruhe, bis die Feuergefechte von neuem ausbrachen, bis ringsumher Salven knatterten und die Leute auf der Straße schrien.
Die Schäden am Haus, die Sie 2002 in Augenschein genommen haben, Mr Markos, sind überwiegend während jener Jahre entstanden. Natürlich ist auch viel Zeit vergangen, und ich bin mit den Reparaturarbeiten im Laufe der Jahre nicht mehr nachgekommen. Ich war inzwischen ein alter Mann und konnte mich nicht mehr wie früher um das Haus kümmern. Damals waren die Bäume längst abgestorben und hatten seit Jahren keine Früchte mehr getragen, der Rasen war gelb, die Blumen waren eingegangen. Und der Krieg ging gnadenlos mit dem einst herrlichen Haus ins Gericht. Die Fenster gingen durch nahe Granateinschläge zu Bruch. Eine Rakete zertrümmerte die Mauer an der Ostseite des Gartens und die Veranda, auf der ich mich so oft mit Nila unterhalten hatte. Das Dach wurde durch eine Granate beschädigt. Die Mauern waren von Einschusslöchern übersät.
Nicht zu vergessen die Plünderungen, Mr Markos. Die Milizsoldaten kamen nach Belieben und nahmen mit, was ihnen gefiel. Sie entwendeten die meisten Möbel und Gemälde, die turkmenischen Teppiche, die Statuen, die silbernen Kerzenhalter und Kristallvasen. Sie hämmerten die Lapislazulieinlagen aus den Waschtischen im Bad. Eines Morgens wurde ich von Lärm, der aus der Eingangshalle zu mir drang, geweckt. Dort waren usbekische Söldner gerade dabei, den Teppich mit geschwungenen Messern von der Treppe zu schneiden. Ich stand daneben und sah zu. Was hätte ich auch tun sollen? Sie hätten mir, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Kugel in den Kopf gejagt.
Aber nicht nur das Haus verfiel, sondern auch Suleiman und ich. Meine Augen wurden immer trüber, und meine Knie schmerzten immer mehr. Bitte verzeihen Sie, wenn es unfein klingt, Mr Markos, aber sogar das Urinieren wurde zur Qual. Wie zu erwarten war, litt Suleiman stärker an den Folgen des Alterns als ich. Er wurde immer kleiner und dünner und erschreckend zerbrechlich. Zwei Mal wäre er fast gestorben, einmal während der Tage, als sich die Truppen Ahmad Schah Massouds und Gulbuddin Hekmatyars ihre blutigsten Gefechte lieferten und die Leichen tagelang auf den Straßen lagen. Damals litt er an einer Lungenentzündung, die laut des Arztes darauf zurückzuführen war, dass er seinen eigenen Speichel inhaliert hatte.
Obwohl Ärzte und Medikamente rar waren, sprang Suleiman durch meine Pflege dem Tod noch
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