Traumsammler: Roman (German Edition)
nicht.
Und dann, eines schönen Tages im Jahr 2002, klingelten Sie am Eingangstor.
Damals waren die Taliban von der Nord-Allianz vertrieben worden, und die Amerikaner waren in Afghanistan einmarschiert. Tausende Mitarbeiter von Hilfsorganisationen aus aller Welt strömten nach Kabul, um Krankenhäuser und Schulen zu errichten, Straßen und Bewässerungskanäle instand zu setzen und für Schutz, Nahrung und Arbeitsplätze zu sorgen.
Der Dolmetscher an Ihrer Seite, ein junger Afghane aus Kabul, trug eine lila Jacke und eine dunkle Sonnenbrille. Er fragte nach dem Besitzer des Hauses. Als ich antwortete, ich sei der Besitzer, tauschte er rasch einen Blick mit Ihnen und sagte dann grinsend: »Nein, Kaka – der Besitzer.« Ich bat Sie herein.
Wir unterhielten uns auf Farsi bei einer Tasse grünem Tee auf dem, was von der Veranda übrig war – wie Sie wissen, Mr Markos, habe ich während der sieben Jahre, die seitdem vergangen sind, ein wenig Englisch gelernt, vor allem durch Ihre großzügige Hilfe. Sie ließen mich durch den Dolmetscher wissen, dass Sie von der griechischen Insel Tinos stammen. Sie waren Chirurg, Mitglied einer Gruppe von Ärzten, die nach Kabul gekommen sind, um Kinder mit Gesichtsverletzungen zu operieren. Sie sagten, dass Ihre Kollegen und Sie eine Unterkunft bräuchten, ein Gästehaus, wie man heute sagt.
Sie fragten mich, wie viel Miete ich verlangen würde.
Ich sagte: »Gar keine.«
Ich erinnere mich an Ihr verblüfftes Blinzeln, als der junge Mann mit der lila Jacke dies übersetzte. Sie glaubten, ich hätte Sie missverstanden, und wiederholten die Frage.
Der Dolmetscher rutschte auf dem Stuhl nach vorn, beugte sich zu mir vor und fragte leise, ob ich nicht mehr richtig ticke, ob mir klar sei, wie viel Geld ich herausschlagen könne, und ob ich wisse, wie hoch die Mieten in Kabul inzwischen seien. Er sagte, ich würde auf einem Berg von Gold sitzen.
Ich antwortete, er solle seine Sonnenbrille absetzen, wenn er mit einem alten Mann rede. Dann sagte ich, er solle seine Arbeit machen, die im Dolmetschen bestehe und nicht darin, anderen Leuten Ratschläge zu geben, und ich wandte mich an Sie und nannte Ihnen den einzigen nicht privaten Grund für mein Angebot. »Sie haben Ihr Land verlassen«, sagte ich, »Ihre Freunde, Ihre Familie, und Sie sind in diese gottverlassene Stadt gekommen, um meinem Heimatland und meinen Landsleuten zu helfen. Und da soll ich an Ihnen Geld verdienen?«
Der junge Dolmetscher, den ich nie wiedersah, warf die Arme in die Luft und lachte ungläubig. Dieses Land war nicht immer so. Es hat sich verändert, Mr Markos.
Manchmal, wenn ich nachts in meiner Hütte liege, brennt Licht im Wohnhaus. Ich beobachte, wie Sie und Ihre Freunde – vor allem die tapfere Amra Ademovic, deren großes Herz ich unendlich bewundere – auf der Veranda oder im Garten essen, Zigaretten rauchen oder Wein trinken. Ich kann auch Musik hören. Hin und wieder ist es Jazz, und das erinnert mich an Nila.
Sie lebt nicht mehr, das weiß ich. Amra hat es mir erzählt. Ich hatte ihr von den Wahdatis erzählt und auch erwähnt, dass Nila Dichterin war. Im vergangenen Jahr ist sie im Internet auf eine französische Publikation gestoßen, eine Anthologie mit den besten Texten der letzten vierzig Jahre. Es gab auch einen Beitrag über Nila, aus dem hervorging, dass sie 1974 gestorben ist. Ich dachte an all die Jahre, in denen ich vergeblich auf den Brief einer Frau gehofft hatte, die längst tot war. Ich war nicht überrascht, als ich erfuhr, dass sie Selbstmord begangen hatte. Ich weiß, dass manche Menschen das Unglück erleben wie andere die Liebe: insgeheim, leidenschaftlich und hemmungslos.
Und damit möchte ich schließen, Mr Markos.
Meine Zeit ist fast abgelaufen. Ich werde täglich schwächer. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Und dafür danke ich Gott. Ich danke auch Ihnen, Mr Markos, nicht nur für Ihre Freundschaft oder dafür, dass Sie täglich die Zeit gefunden haben, mich auf einen Tee zu besuchen und mir Neues von Ihrer Mutter auf Tinos und von Thalia, Ihrer Freundin aus Kindheitstagen, zu erzählen, sondern auch für Ihr Mitgefül für mein Volk und die wertvolle Unterstützung, die Sie den Kindern hier zuteilwerden lassen.
Ich danke Ihnen außerdem für all die Reparaturen, die Sie am Haus haben vornehmen lassen. Ich habe den Großteil meines Lebens darin verbracht, und es ist mein Zuhause. Ich bin mir sicher, dass ich unter seinem Dach in Kürze meinen letzten Atemzug tun
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