Traumsammler: Roman (German Edition)
gesellig und macht seine Fehler durch Charme, Freundlichkeit und eine betörend unschuldige Ausstrahlung wett, die jeden für ihn einnimmt, dem er begegnet. Das gute Aussehen schadet ihm dabei genauso wenig wie der muskulöse Körper, die grünen Augen und das Grübchenlächeln. Timur, denkt Idris, ist ein erwachsener Mann, der die Vorrechte eines Kindes genießt.
»Gut«, sagt Amra. »Na, schön.« Sie zieht das Bettlaken auf, das anstelle eines Vorhangs unter die Decke genagelt wurde, und lässt die beiden hinein.
Das Mädchen – Amra nennt sie Roshi, eine Kurzform von Roshana – ist neun, vielleicht auch zehn Jahre alt. Sie sitzt auf einem Stahlbett, den Rücken gegen die Wand gedrückt, die Knie vor die Brust gezogen. Idris senkt sofort den Blick und verkneift sich ein entsetztes Japsen. Timur kann sich natürlich nicht beherrschen. Er flüstert erschrocken »Ts-ts-ts« und »Oh, oh«. Idris ist nicht überrascht, als er sieht, dass Timur theatralisch Tränen in die Augen treten.
Das Mädchen zuckt zusammen, stöhnt auf.
»Okay, das war’s, wir gehen«, sagt Amra.
Draußen, auf der kaputten Eingangstreppe, zieht die Krankenschwester eine Schachtel Marlboro Reds aus der Brusttasche ihres blauen Kittels. Timur, dessen Tränen ebenso schnell getrocknet wie geflossen sind, nimmt sich eine Zigarette und gibt Amra Feuer. Idris schwirrt der Kopf. Ihm ist übel, sein Mund ist wie ausgedörrt. Er befürchtet, sich lächerlich zu machen, wenn er sich jetzt übergibt, und so das Bild bestätigt, das Amra von ihnen hat: Unbedarfte, reiche Exilafghanen, die nach der Flucht der Feinde die Reste des Gemetzels begaffen.
Idris rechnet damit, dass Amra sie anpfeift, auf jeden Fall Timur, aber sie wirkt eher so, als würde sie flirten. Das muss an Timurs Wirkung auf Frauen liegen.
»Also«, sagt sie kokett. »Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen? Timur?«
Timur nennt sich in den USA nur Tim. Er hat seinen Namen nach den Anschlägen vom 11. September geändert, und er behauptet, sein Geschäftsvolumen seither fast verdoppelt zu haben. Das Weglassen dieser beiden Buchstaben, hat er Idris erklärt, habe seine Karriere mehr beflügelt, als es ein College-Abschluss je vermocht hätte. Idris ist der Akademiker in der Bashiri-Familie. Und ihm ist aufgefallen, dass sein Cousin sich seit ihrer Ankunft in Kabul immer als Timur vorstellt. Ein harmloses, vielleicht sogar notwendiges Spiel mit der Identität, das Idris trotzdem ärgert.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagt Timur.
»Vielleicht bestrafe ich dich.«
»Ganz ruhig, Miezekatze.«
Amra dreht sich zu Idris um. »Also. Er ist der Cowboy, und du – du bist der ruhige, sensible Typ. Du bist … wie heißt das? Introvertiert?«
»Er ist Arzt«, sagt Timur.
»Ach, ja? Dann war es sicher ein Schock für dich. Dieses Krankenhaus.«
»Was ist ihr widerfahren?«, fragt Idris. »Wer hat Roshi das angetan?«
Amra setzt eine abweisende Miene auf, und ihre Antwort klingt mütterlich entschlossen. »Ich setze mich für sie ein. Ich ringe mit der Regierung, der Krankenhausbürokratie, dem dummen Neurochirurgen. Ich kämpfe für sie um alles. Und ich lasse nicht ab. Sie ist ganz allein.«
»Sie hat doch einen Onkel«, sagt Idris.
»Auch ein Mistkerl.« Sie schnippt die Asche weg. »Und? Warum seid ihr Jungs hier?«
Timur setzt zu einer Erklärung an, die im Großen und Ganzen zutrifft: Sie sind Cousins; ihre Familien sind nach dem Einmarsch der Sowjets geflohen; sie haben ein Jahr in Pakistan gelebt und sind in den frühen 80er Jahren nach Kalifornien gegangen; sie sind zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren wieder in Afghanistan. Dann ergänzt er noch, dass sie gekommen seien, um ihre »Wurzeln zu suchen«, »Kenntnisse zu erwerben«, die Folgen der jahrelangen Kriege und Zerstörungen »mit eigenen Augen zu sehen«. Sie hätten vor, sagt er, in den Staaten das Bewusstsein für dieses Land zu schärfen und Spenden zu sammeln, um »etwas zurückgeben zu können«.
»Wir möchten etwas zurückgeben«, sagt er und spricht diese abgedroschene Phrase so todernst aus, dass es Idris fast peinlich ist.
Timur verrät natürlich nicht, dass sie nach Kabul gekommen sind, um den Besitz zurückzufordern, der einst ihren Vätern gehörte, das Haus, in dem Idris und er die ersten vierzehn Jahre ihres Lebens verbracht haben. Der Wert des Hauses ist in der Zwischenzeit um ein Vielfaches gestiegen, jetzt, da unzählige internationale, nach Kabul gekommene Helfer eine Bleibe brauchen.
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