Traumsammler: Roman (German Edition)
Sie sind vorhin zum Haus gefahren, indem derzeit eine bunt zusammengewürfelte Gruppe erschöpft aussehender Nordallianz-Soldaten untergebracht ist. Als sie sich wieder auf den Weg machten, sind sie einem Mann begegnet, der drei Häuser weiter auf der anderen Seite der Straße wohnt, ein Chirurg aus Griechenland namens Markos Vavaris. Er hatte sie zum Mittagessen eingeladen und vorgeschlagen, ihnen das Ali-Abad-Krankenhaus zu zeigen, in dem die NGO, für die er tätig ist, ein Büro hat. Er hat sie auch zu einer Party eingeladen, die noch am selben Abend bei ihm im Haus stattfindet. Als sie im Krankenhaus ankamen, hatten sie gehört, wie zwei Krankenpfleger sich auf der Treppe über das Mädchen unterhielten. Die sollten wir mal auschecken, Alter, hatte Timur gesagt.
Timurs Geschichte scheint Amra zu langweilen. Sie wirft die Zigarette weg und strafft das Gummiband, das ihre blonden Locken zusammenhält. »So, so. Dann sehe ich euch heute Abend auf der Party, Jungs?«
* * *
Sie sind von Timurs Vater, Idris’ Onkel, nach Kabul geschickt worden. Das zweistöckige Haus der Familie hat während der letzten zwei Kriegsjahrzehnte mehrmals den Besitzer gewechselt. Die Rückerstattung des Besitzes würde Geld und Zeit kosten. Die Gerichte des Landes sind schon jetzt heillos mit Eigentumsstreitigkeiten überlastet. Timurs Vater hatte sie vorgewarnt – sie würden sich durch die für ihre Trägheit und Aufgeblasenheit berüchtigte afghanische Bürokratie »manövrieren« müssen, ein Euphemismus für das Schmieren der richtigen Beamten.
»Mein Spezialgebiet«, hatte Timur überflüssigerweise gesagt.
Idris’ Vater war vor neun Jahren, nach langem Kampf gegen den Krebs, gestorben. Er war zu Hause gestorben, im Beisein seiner Frau, seiner zwei Töchter und Idris’. Kurz nach seinem Tod fiel ein regelrechter Mob in das Haus ein, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, Freunde und Bekannte, die sich auf den Sofas und den Stühlen im Esszimmer breitmachten, ja sogar auf der Treppe, als kein Platz mehr frei war. Die Frauen versammelten sich im Esszimmer und in der Küche. Sie kochten unzählige Kannen Tee. Idris war der einzige Sohn, und deshalb musste er alle Formulare unterschreiben: für den Arzt, der den Tod seines Vaters offiziell feststellte, für die höflichen jungen Männer vom Bestattungsinstitut, die den Leichnam seines Vaters auf einer Bahre aus dem Haus trugen.
Timur wich währenddessen nicht von seiner Seite. Er half beim Entgegennehmen der Anrufe. Er empfing die Leute, die kondolieren wollten. Er bestellte Reis und Lamm im Kabob-Haus, einem afghanischen Restaurant, das Timurs Freund Abdullah führte; Timur nannte ihn aus Spaß immer nur Onkel Abe. Als es zu regnen begann, parkte Timur die Autos der älteren Gäste. Er rief einen Kumpel an, der für einen örtlichen afghanischen Fernsehsender arbeitete, denn im Gegensatz zu Idris war Timur in der afghanischen Community gut vernetzt. Er hatte Idris einmal gesagt, dass er über dreihundert Namen und Nummern im Adressbuch seines Handys gespeichert habe. Er sorgte dafür, dass das afghanische Fernsehen noch am gleichen Abend eine Meldung brachte.
Und er fuhr Idris am frühen Nachmittag desselben Tages zum Bestattungsinstitut nach Hayward. Es goss in Strömen, und der Verkehr auf der 680 in Richtung Norden war zäh.
»Dein Vater war ein klasse Typ, Mann. Ganz die alte Schule«, sagte Timur, als er die Abfahrt von The Mission nahm. Er wischte sich mit der freien Hand immer wieder Tränen aus den Augen.
Idris nickte düster. Er konnte in Gegenwart anderer Menschen nicht weinen, auch nicht bei Gelegenheiten, die dies eigentlich verlangt hätten, zum Beispiel bei Beerdigungen. Er betrachtete dies als kleineres, der Farbenblindheit verwandtes Handicap. Trotzdem empfand er einen vagen und, wie ihm nun bewusst wurde, irrationalen Groll gegen Timur, weil dieser ihn zu Hause mit seinem Herumgerenne und dramatischen Geflenne in den Hintergrund gedrängt hatte – als wäre nicht sein Vater gestorben, sondern Timurs.
Man geleitete sie in einen schwach erhellten, stillen Raum mit schweren, dunklen Möbeln. Ein Mann mittleren Alters mit schwarzem Sakko und Mittelscheitel begrüßte sie. Er duftete nach teurem Kaffee. Er bekundete Idris in souveränem Tonfall sein Beileid und legte ihm die Vollmacht für die Bestattung zur Unterschrift vor. Er fragte, wie viele Ausfertigungen der Todesurkunde die Familie benötige. Nach der Unterzeichnung aller Formulare legte er Idris
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