Traumsammler: Roman (German Edition)
Entscheidung, und das verwirrt ihn.
»Idris! Meine Güte«, sagt Joan kopfschüttelnd. »Wie nett von dir. Und wie schrecklich – das arme Kind. Grauenhaft.«
»Ja, ich weiß«, sagt er und fragt dann, ob der Konzern für die Behandlung aufkommen könne. »Oder die Behandlungen, denn ich schätze, dass sie mehr als eine brauchen wird.«
Joan seufzt. »Ich wünschte, das wäre möglich. Aber um ganz ehrlich zu sein, bezweifele ich, dass das Leitungsgremium dem zustimmen würde. Ich bezweifele das sehr stark. Wie du weißt, schreiben wir seit fünf Jahren rote Zahlen. Außerdem würde diese Angelegenheit rechtliche Fragen aufwerfen – heikle juristische Probleme.«
Sie verstummt, vielleicht in Erwartung eines Einwands, aber dieser bleibt aus.
»Verstehe«, sagt er.
»Gibt es denn keine Hilfsorganisationen, die sich für so etwas einsetzen? Würde etwas Mühe kosten, sich darum zu kümmern, aber …«
»Ja, das wäre eine Idee. Danke, Joan.« Er steht wieder auf, ist überrascht, dass er sich nach ihrer Reaktion erleichtert, ja fast befreit fühlt.
* * *
Der Einbau der Heimkinoanlage dauert einen weiteren Monat, aber sie ist die Wucht. Das Bild, von dem unter der Decke angebrachten Projektor auf die Wand geworfen, ist gestochen scharf, die Bewegungen wirken auf der 102-Zoll-Leinwand beeindruckend geschmeidig. Der 7.1-Channel-Surround-Sound, die graphischen Equalizer und die in jeder Ecke installierten Basstraps sorgen für eine erstklassige Akustik. Sie schauen Fluch der Karibik , und die Jungs, beide von der Technik begeistert, sitzen links und rechts von Idris und futtern Popcorn aus der riesigen Schüssel auf seinem Schoß. Sie schlafen vor der langen Kampfszene am Ende des Films ein.
»Ich bringe sie ins Bett«, sagt Idris zu Nahil.
Er hebt erst den einen, dann den anderen hoch. Seine Söhne wachsen erschreckend schnell. Als er sie hinlegt, wird ihm bewusst, dass sie ihm bald das Herz brechen werden. In einigen Jahren wird er abgemeldet sein. Dann werden sich die Jungs für andere Dinge und Leute interessieren, und ihre Eltern werden ihnen peinlich sein. Idris denkt voller Sehnsucht an die Zeit zurück, als sie klein, hilflos und vollkommen abhängig von ihm waren. Er weiß noch, wie sehr sich Zabi damals vor Gullilöchern fürchtete und wie er einen großen, ungelenken Bogen darum machte. Einmal, sie guckten einen alten Film, erkundigte sich Lemar bei Idris, ob er schon gelebt habe, als die Welt noch schwarzweiß war. Die Erinnerung entlockt ihm ein Lächeln. Er küsst seine Söhne auf die Wange.
Er setzt sich und schaut Lemar im Dunkeln beim Schlafen zu. Er begreift, dass er seine Söhne voreilig und unfair beurteilt hat und auch mit sich selbst zu streng war. Er ist kein Verbrecher. Was er besitzt, hat er sich redlich verdient. Während der neunziger Jahre, als die Hälfte seiner Freunde in Clubs abhing und Frauen aufriss, hat er wie besessen gelernt, sich um zwei Uhr früh durch Krankenhausflure geschleppt, auf Schlaf, Freizeit und Luxus verzichtet. Zwischen zwanzig und dreißig verschrieb er sich ganz der Medizin. Er hat sich nichts vorzuwerfen. Warum sollte er sich schlecht fühlen? Das ist seine Familie. Das ist sein Leben.
Im Laufe des vergangenen Monats ist Roshi für ihn so abstrakt geworden wie die Figur eines Theaterstücks. Ihre Verbindung hat sich gelöst. Die überraschende und eindringliche Nähe, die sich damals im Krankenhaus eingestellt hat, ist verflogen. Die Erlebnisse verblassen in seiner Erinnerung. Die wilde Entschlossenheit, die Besitz von ihm ergriff, erkennt er als das, was sie wirklich war: eine Illusion, ein Trugbild. Er stand unter einem drogenähnlichen Einfluss. Inzwischen hat sich ein riesiger Abstand zwischen ihm und dem Mädchen aufgetan, eine endlos weite, unüberwindbare Kluft. Das Versprechen, das er ihr gegeben hat, war voreilig, ein Fehler, der einer Überschätzung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel, seiner Willenskraft und seines Charakters entsprang. Er sollte die Sache abhaken. Sie überfordert ihn. So einfach ist das. Während der letzten zwei Wochen hat er drei weitere Mails von Amra erhalten. Er hat die erste gelesen, aber nicht beantwortet. Die anderen beiden hat er gelöscht, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
* * *
Der Buchladen ist voller Menschen. Idris staunt insgeheim darüber. Aber wenn man die gute Rezension in der Times und den Auftritt in Good Morning America bedenkt, ist es natürlich nicht ganz so verwunderlich. Die
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