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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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gewesen. Stattdessen hat sie ihn diplomatisch abgefertigt. Dazu ihre Worte: Sei unbesorgt. Du kommst nicht drin vor. Sehr freundlich von ihr oder, besser gesagt, ausgesprochen gnädig. Er sollte erleichtert sein, aber es tut weh. So weh wie ein Axthieb auf den Kopf.
    Ganz in der Nähe steht eine Bank unter einer Ulme. Er geht hin und legt das Buch dort auf die Sitzfläche. Dann läuft er zurück zum Wagen, setzt sich hinter das Steuer, doch es dauert lange, bis er es wagt, den Motor anzulassen und loszufahren.
    * * *

Sechs
    Februar 1974
    Vorwort des Herausgebers, Parallaxe Nr. 84 /Winter 1974 , S. 5
Liebe Leserinnen und Leser,

als wir vor fünf Jahren begannen, in unserer Literaturzeitschrift Interviews mit wenig bekannten Lyrikern zu veröffentlichen, ahnten wir nichts von der begeisterten Resonanz. Viele von Ihnen wollten mehr lesen, und Ihre Zuschriften hatten zur Folge, dass diese Porträts nicht nur zu einer schönen Tradition in Parallaxe , sondern auch zu einer Lieblingsrubrik unserer Mitarbeiter wurden. Wir haben zahlreiche hochbegabte Lyriker entdeckt beziehungsweise wiederentdeckt, deren Werk nun eine längst überfällige Würdigung erfährt.
Auf dieser Ausgabe liegt betrüblicherweise ein Schatten. Wir stellen Ihnen darin die afghanischstämmige Lyrikerin Nila Wahdati vor, die Etienne Boustouler im vergangenen Winter in Courbevoie, nahe Paris, interviewt hat. Wie Sie sehen werden, ist das Interview mit Madame Wahdati eines der offensten und enthüllendsten, die wir je veröffentlicht haben. Kurz darauf haben wir zu unserem tiefen Bedauern von Nila Wahdatis viel zu frühem Tod erfahren. Sie wird dem Kreis der Lyrikerinnen und Lyriker sehr fehlen. Sie hinterlässt eine Tochter.
    * * *
    Das Timing ist fast unheimlich. Die Fahrstuhltür öffnet sich mit einem »Pling!« in genau jenem Moment, als das Telefon zu läuten beginnt. Pari hört das Läuten, weil es aus Juliens Wohnung kommt, die gleich beim Fahrstuhl, am Ende des dämmerigen, schmalen Flurs liegt. Sie ahnt, wer da anruft, und Juliens Miene verrät ihr, dass er es auch ahnt.
    Julien, der den Fahrstuhl schon betreten hat, sagt: »Lass es klingeln.«
    Hinter ihm steht die über ihnen wohnende, schroffe Frau mit dem wettergegerbten Gesicht und glotzt Pari ungeduldig an. Wegen des Ziegenbärtchenflaums zwischen Unterlippe und Kinn nennt Julien sie immer La chèvre .
    Er sagt: »Komm schon, Pari. Wir sind spät dran.«
    Er hat in einem neuen Restaurant im 16. Arrondissement, das mit seinem poulet braisé , der sole cardinal e und Kalbsleber mit Sherry-Essig für einiges Aufsehen gesorgt hat, für neunzehn Uhr einen Tisch reserviert. Sie sind dort mit Christian und Aurélie verabredet, alten Freunden von Julien – nicht aus seiner Zeit als Dozent, sondern als Student. Sie haben sich für halb sieben zum Aperitif verabredet, und es ist schon Viertel nach. Sie müssen noch zur Metro laufen, bis zur Station La Muette fahren und von dort ein paar Straßen bis zum Restaurant gehen.
    Das Telefon klingelt immer noch.
    Die Ziegenfrau hustet.
    »Pari?«, sagt Julien, jetzt entschiedener.
    »Das ist bestimmt Maman«, sagt Pari.
    »Ja. Das kann ich mir denken.«
    Pari kommt widersinnigerweise der Gedanke, dass Maman – mit ihrem ausgeprägten Instinkt für das Dramatische – genau diesen Moment abgepasst hat, um ihre Tochter anzurufen und sie so in eine Zwickmühle zu bringen: Entweder sie tritt neben Julien in den Fahrstuhl, oder sie geht ans Telefon.
    »Könnte wichtig sein.«
    Julien seufzt.
    Die Fahrstuhltüren schließen sich, und als er sich gegen die Flurwand lehnt und die Hände in den Taschen seines Trenchcoats vergräbt, erinnert er kurz an einen Polizisten aus einem Film von Melville.
    »Dauert nicht lange«, sagt Pari.
    Julien wirft ihr einen skeptischen Blick zu.
    Juliens Wohnung ist klein. Pari durchquert den Flur mit sechs Schritten, geht an der Küche vorbei ins Schlafzimmer, setzt sich auf die Bettkante und greift zum Hörer des Telefons, das auf dem Nachttisch steht. Für einen zweiten bietet das Zimmer keinen Platz, aber der Ausblick entschädigt für alles. Gerade regnet es, aber an klaren Tagen kann man aus diesem Fenster, das Richtung Osten geht, weite Teile des 19. und 20. Arrondissements überblicken.
    » Oui, allô ?«, sagt sie in die Sprechmuschel.
    » Bonsoir «, antwortet eine Männerstimme. »Spreche ich mit Mademoiselle Wahdati?«
    »Wer ist am Apparat?«
    »Sind Sie die Tochter von Madame Nila Wahdati?«
    »Ja.«
    »Ich

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