Traumsammler: Roman (German Edition)
Noch schlimmer ist, dass an diesem Nachmittag die anstrengende Mrs Rasmussen kommt, eine besonders unangenehme, stets auf Krawall gebürstete Patientin, die sich seit Jahren wegen irgendwelcher vagen Symptome behandeln lässt, ohne dass je eine Behandlung anschlägt. Bei dem Gedanken, sich ihrer feindseligen Art aussetzen zu müssen, bricht ihm der kalte Schweiß aus. Und zu guter Letzt ist da noch eine Nachricht seiner Chefin, Joan Schaeffer, auf Band, die ihm mitteilt, dass ein Patient, bei dem er vor seiner Abreise nach Kabul eine Lungenentzündung diagnostiziert hat, in Wahrheit an kongestiver Herzinsuffizienz leidet. Seine Fehldiagnose wird bei der in Kürze anstehenden, monatlichen Videokonferenz von Ärzten aller Fachrichtungen diskutiert werden. Das geschieht zwar anonym und dient nur der künftigen Vermeidung von Fehlern, aber Idris weiß, dass der Name des betreffenden Arztes nicht lange geheim bleibt – mindestens die Hälfte der Teilnehmer wird wissen, welcher Kollege Mist gebaut hat.
Er spürt einen Anflug von Kopfschmerzen.
An diesem Vormittag hinkt er seinem Terminplan weit hinterher. Ein unangemeldet erscheinender Asthmapatient verlangt eine Atembehandlung sowie eine genaue Analyse von Peak Flow und Sauerstoffanreicherung. Ein Manager mittleren Alters, den Idris zuletzt vor drei Jahren behandelt hat, meldet sich wegen eines einsetzenden Myokardinfarkts. Idris kann erst am späten Mittag eine Pause machen. Er verschlingt ein Putensandwich im Konferenzraum, der von den Ärzten zum Essen genutzt wird, und versucht dabei, seine Notizen zu vervollständigen. Er beantwortet die immer gleichen Fragen seiner Kollegen. Ist Kabul sicher? Was halten die Afghanen von der amerikanischen Militärpräsenz? Idris antwortet kurz und knapp, denkt die ganze Zeit an Mrs Rasmussen, an noch zu beantwortende Anrufe und zu unterschreibende Rezepte, an die drei Termine, die sich am Nachmittag überschneiden, an die bevorstehende Konferenz, an die Arbeiter, die bei ihm zu Hause sägen, bohren und Nägel einschlagen. Wenn er von Afghanistan erzählt, kommt es ihm vor – es überrascht ihn, wie schnell und unmerklich das passiert ist –, als würde er über einen kürzlich gesehenen, herzergreifenden Film sprechen, der in der Erinnerung langsam verblasst.
Diese Woche erweist sich als eine der härtesten seines bisherigen Berufslebens. Er schafft es nicht, mit Joan Schaeffer über Roshi zu reden, obwohl es sein fester Vorsatz war. Er hat die ganze Woche eine Stinklaune. Zu Hause redet er nicht viel mit seinen Söhnen, ist genervt von dem Lärm und dem Kommen und Gehen der Handwerker. Er schläft immer noch schlecht. Er bekommt zwei weitere Mails von Amra, die ihn über die Zustände in Kabul auf dem Laufenden hält. Rabia Balkhi, das Krankenhaus für Frauen, ist wieder in Betrieb. Karzais Kabinett erteilt Kabelfernsehsendern gegen den Willen islamistischer Hardliner die Sendeerlaubnis. Amra schreibt in einem PS am Ende der zweiten Mail, dass Roshi seit seiner Abreise immer verschlossener sei, fragt, ob er schon mit seiner Chefin gesprochen habe. Idris steht vom Computer auf. Später kehrt er wieder zurück, beschämt, weil Amras Nachsatz ihn geärgert hat und weil er kurz davor war, in Großbuchstaben zu antworten: Werde ich. Sobald ich die Zeit dazu finde.
* * *
»Ich hoffe, es war nicht zu schlimm für dich.«
Joan Schaeffer sitzt hinter ihrem Schreibtisch, die Hände im Schoß verschränkt. Sie ist eine fröhliche, temperamentvolle Frau mit vollem Gesicht und kräftigen, weißen Haaren. Sie betrachtet ihn über die schmalen Gläser ihrer mitten auf der Nase sitzenden Lesebrille. »Du weißt sicher, dass wir dich nicht runterputzen wollten.«
»Ja, sicher«, sagt Idris. »Ich weiß.«
»Gräm dich nicht. Das kann jedem von uns passieren. Auf einer Röntgenaufnahme kann man eine Herzinsuffizienz leicht mit einer Lungenentzündung verwechseln.«
»Danke, Joan.« Er steht auf, geht zur Tür. »Oh. Ich wollte noch etwas mit dir besprechen.«
»Gern. Nur zu. Setz dich.«
Er nimmt wieder Platz. Dann erzählt er von Roshi, schildert ihre Verletzung und die mangelhafte Ausstattung des Ali-Abad-Krankenhauses. Er gesteht, dass er gegenüber Amra und Roshi eine Verpflichtung eingegangen ist. Als er dies laut ausspricht, lastet es plötzlich viel schwerer auf seinen Schultern als in Kabul – er stand mit Amra im Flur, und sie küsste ihn auf die Wange, aber jetzt erfüllt ihn eine Reue wie nach einer übereilten
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