Traumsammler: Roman (German Edition)
bin Doktor Delaunay. Es geht um Ihre Mutter.«
Pari schließt die Augen. Sie verspürt den Anflug eines Schuldgefühls, das gleich darauf von der üblichen Furcht verdrängt wird. Sie hat schon viele Anrufe dieser Art erhalten, unzählige, und das nicht nur als junge Frau, sondern sogar noch früher. Einmal wurde sie in der fünften Klasse von ihrem Lehrer aus einer Erdkunde-Arbeit geholt und in den Flur geführt, wo er ihr mit gedämpfter Stimme erzählte, was passiert war. Pari ist solche Anrufe also gewohnt, aber sie ist dadurch nicht sorgloser geworden. Sie denkt jedes Mal: Es ist passiert, jetzt ist es passiert! , und eilt nach dem Auflegen sofort zu Maman. Julien hat Pari einmal auf seine wortkarge Art geraten, ihrer Maman weniger Aufmerksamkeit zu schenken – dann werde diese vielleicht nicht mehr so oft danach verlangen.
»Sie hatte einen Unfall«, sagt Dr. Delaunay.
Pari steht am Fenster und wickelt die Telefonschnur um einen Finger, während sie dem Bericht des Arztes folgt: Der Schnitt auf der Stirn, den man nähen musste, die vorbeugende Tetanus-Impfung, die Nachbehandlung mit Peroxid, gängigen Antibiotika, einem Verband. Pari muss an jenen Tag denken, sie war damals zehn Jahre alt, als sie von der Schule nach Hause kam und dort fünfundzwanzig Francs und einen Zettel auf dem Küchentisch vorfand, auf dem ihre Maman notiert hatte: Bin mit Marc ins Elsass gefahren. Du kennst ihn sicher noch. Bin in zwei Tagen zurück. Sei ein braves Mädchen. (Nicht zu lange aufbleiben!) Je t’aime. Maman. Pari hatte zitternd und weinend in der Küche gestanden und sich eingeredet, dass zwei Tage doch gar nicht so lang seien.
Der Arzt stellt ihr eine Frage.
»Pardon?«
»Ich fragte, ob Sie sie abholen und heimbringen könnten, Mademoiselle. Die Verletzung ist zwar nicht weiter schlimm, aber sie sollte trotzdem nicht allein nach Hause fahren. Wir könnten ihr auch ein Taxi rufen.«
»Nein. Schon gut. Ich bin in einer halben Stunde da.«
Sie setzt sich wieder aufs Bett. Julien wird sauer sein, sich vielleicht auch vor Christian und Aurélie schämen, deren Meinung ihm viel zu bedeuten scheint. Pari mag Julien nicht im Flur gegenübertreten. Sie hat auch wenig Lust, sich in Courbevoie mit ihrer Mutter auseinanderzusetzen. Sie würde sich am liebsten hinlegen, dem Wind lauschen, der die Regentropfen gegen das Fenster prasseln lässt, und irgendwann einschlafen.
Sie zündet sich eine Zigarette an, und als Julien hinter ihr ins Schlafzimmer tritt und fragt: »Du kommst nicht mit, oder?«, gibt sie keine Antwort.
* * *
Auszug aus »Afghanischer Singvogel«, ein Interview mit Nila Wahdati. Von Etienne Boustouler. Parallaxe Nr. 84 / Winter 1974 , S. 33
EB
Sie sind also halb Afghanin und halb Französin?
NW
Meine Mutter war Französin. Ja. Gebürtige Pariserin.
EB
Aber sie hat Ihren Vater in Kabul kennengelernt. Und Sie wurden dort geboren.
NW
Ja, meine Eltern sind einander 1927 begegnet. Anlässlich eines offiziellen Diners im Königspalast. Meine Mutter hat ihren Vater, meinen Großvater, begleitet, der nach Kabul entsandt worden war, um König Amanullah bei dessen Reformvorhaben zu beraten. Sie wissen, wer König Amanullah war?
Wir sitzen im Wohnzimmer der kleinen Wohnung von Nila Wahdati, in der dreißigsten Etage eines Wohngebäudes im Städtchen Courbevoie, nordwestlich von Paris. Der Raum ist klein, schwach erhellt und sparsam eingerichtet: ein safrangelbes Sofa, ein Couchtisch, zwei hohe Bücherregale. Sie sitzt mit dem Rücken zum Fenster, das sie geöffnet hat, damit der Qualm der Zigaretten, die sie fast ununterbrochen raucht, abziehen kann.
Nila Wahdati gibt ihr Alter mit vierundvierzig an. Sie ist eine beeindruckend attraktive Frau im Zenith ihrer Schönheit, die sie noch lange schmücken wird. Hohe, vornehme Wangenknochen, schöne Haut, schmale Taille. Ihre Augen wirken intelligent und verführerisch, ihr eindringlicher Blick gibt einem das Gefühl, dass man zugleich respektiert, auf die Probe gestellt, umgarnt und benutzt wird. Bis auf den leicht verschmierten Lippenstift trägt sie kein Make-up. Sie hat sich ein buntes Tuch um die Stirn gebunden, trägt eine ausgewaschene lila Bluse über der Jeans und weder Strümpfe noch Schuhe. Obwohl es erst elf Uhr vormittags ist, schenkt sie sich aus einer ungekühlten Flasche Chardonnay ein. Ich lehne ab, als sie mir freundlich ein Glas anbietet.
NW
Sie hatten nie einen besseren König.
Die Formulierung weckt mein Interesse.
EB
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