Traumsammler: Roman (German Edition)
im Spiegel an, vor dem sie sich die Zähne putzt.
»Ja, all den Konsumkram.«
»Nein, nicht unbedingt , falls du das meinst«, sagt sie, spuckt in das Waschbecken und gurgelt.
»Hältst du es nicht für übertrieben? Für zu viel?«
»Wir haben hart dafür gearbeitet, Idris. Denk an unsere Zulassungsprüfungen, das Medizinstudium, das Jurastudium, die jahrelange Assistenzzeit. Man hat uns nichts geschenkt. Wir müssen uns für nichts entschuldigen.«
»Für das Geld, das die Heimkinoanlage kostet, hätten wir in Afghanistan eine Schule bauen können.«
Nahil kommt ins Schlafzimmer und setzt sich aufs Bett, um ihre Kontaktlinsen herauszunehmen. Ihr Profil ist sehr schön. Idris findet es wunderbar, wie ihre Stirn in einer fast geraden Linie in die Nase übergeht. Er kann sich an ihren ausgeprägten Wangenknochen und dem schlanken Hals nicht sattsehen.
»Dann bezahl beides«, sagt sie, indem sie sich blinzelnd zu ihm umdreht. »Das wäre für dich doch kein Problem.«
Idris hat vor einigen Jahren herausgefunden, dass Nahil die Patenschaft für einen kolumbianischen Jungen namens Miguel übernommen hat. Sie hatte es ihm verschwiegen, und weil sie sich um die Post und die Finanzen kümmert, ist es ihm erst aufgefallen, als er sie bei der Lektüre eines Briefes von Miguel ertappte. Dem Brief, von einer Nonne aus dem Spanischen übersetzt, lag das Foto eines drahtigen, hoch aufgeschossenen, vor einer Strohhütte stehenden Jungen mit einem Fußball unter dem Arm bei. Im Hintergrund waren abgemagerte Kühe und grüne Hügel zu sehen. Nahil hatte Miguel schon während ihres Jurastudiums unterstützt. Ihre Schecks und Miguels dankbare, von Nonnen übersetzte Briefe und die Fotos waren seit elf Jahren heimlich, still und leise hin- und hergegangen.
Nahil nimmt ihre Ringe ab. »Was soll das? Hast du dich in Afghanistan mit einem Schuldkomplex infiziert?«
»Ich sehe die Dinge jetzt einfach ein wenig anders.«
»Gut. Dann solltest du das produktiv umsetzen. Aber hör auf, diese Nabelschau zu betreiben.«
Idris findet wegen des Jetlags keinen Schlaf. Er liest eine Weile, geht nach unten und sieht sich den Teil einer Wiederholung von West Wing an und setzt sich dann im Gästezimmer, das Nahil in ein Büro verwandelt hat, vor den Computer. Amra hat ihm eine Mail geschickt. Sie hoffe, schreibt sie, dass er wohlbehalten heimgekehrt sei und dass es seiner Familie gutgehe. In Kabul habe es »wütend« geregnet, und man wate auf den Straßen durch knöcheltiefen Schlamm. Es habe Überschwemmungen gegeben, und in der Shomali-Ebene, nördlich von Kabul, habe man zweihundert Familien mit Hubschraubern evakuieren müssen. Man habe die Sicherheitsmaßnahmen verschärft, denn Kabul befürworte Bushs Krieg im Irak, und man rechne mit Gegenschlägen von Al-Qaida. Der letzte Satz lautet: »Hast Du schon mit Deiner Chefin gesprochen?«
Amra hat ihrer Mail eine kurze, von ihr notierte Nachricht von Roshi angefügt. Sie lautet:
Salaam, Kaka Idris,
ich hoffe, Inshallah, Du bist gut in Amerika angekommen. Deine Familie ist sicher froh, Dich wiederzusehen. Ich denke jeden Tag an Dich. Ich schaue täglich die Filme, die Du mir mitgebracht hast. Ich finde sie alle toll. Ich bin traurig, weil Du sie nicht gemeinsam mit mir gucken kannst. Ich bin wohlauf, und Amra jan kümmert sich gut um mich. Bitte richte Deiner Familie meinen Gruß aus – Salaam. Ich hoffe, dass wir uns bald in Kalifornien sehen.
Mit besten Grüßen,
Roshana
Idris antwortet Amra, bedankt sich, schreibt, dass er mit Bedauern von den Überflutungen hört und auf ein baldiges Ende der Regenfälle hofft. Er fügt hinzu, dass er noch in dieser Woche mit seiner Chefin über Roshi sprechen werde. Er setzt darunter:
Salaam, Roshi jan,
vielen Dank für Deine lieben Zeilen. Ich freue mich sehr, von Dir zu hören. Ich denke auch viel an Dich. Ich habe meiner Familie alles über Dich erzählt, und sie möchten Dich unbedingt kennenlernen, vor allem meine Söhne, Zabi jan und Lemar jan, die oft nach Dir fragen. Wir alle freuen uns auf Deine Ankunft.
Mit sehr liebem Gruß,
Dein Kaka Idris
Er loggt sich aus und geht zu Bett.
* * *
Als er am Montag ins Büro kommt, erwarten ihn zahlreiche Nachrichten. Ein Stapel Rezepte, die abgezeichnet werden wollen. Er muss mehr als einhundertsechzig Mails lesen, und seine Mailbox ist voll. Er geht am Computer seinen Terminplan durch und stellt zu seinem Entsetzen fest, dass sich während der ganzen Woche immer wieder Termine überschneiden.
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