Traumsammler: Roman (German Edition)
überraschen.«
»Nein, tut es nicht.«
»Viele Krankenschwestern waren genauso wenig überrascht. Sie sagen, dass Ihre Mutter hier so etwas wie ein Stammgast ist. Da ich neu bin, hatte ich noch nicht das Vergnügen.«
»Wie war ihr Zustand?«
»Sie war recht bockig«, antwortet er, »und – wie soll ich sagen? – theatralisch.«
Sie tauschen ein kurzes Grinsen.
»Wird sie wieder?«
»Es wird ihr bald bessergehen«, sagt Dr. Delaunay. »Aber ich muss ihr raten, und zwar sehr nachdrücklich, nicht mehr so viel zu trinken. Sie hat noch einmal Glück gehabt, aber wer weiß, was beim nächsten Mal …«
Pari nickt. »Wo ist sie?«
Er führt sie wieder in die Notaufnahme und dort einmal um die Ecke. »Bett Nr. 3. Ich komme gleich, um ihr Anweisungen für die Zeit nach der Entlassung zu geben.«
Pari bedankt sich und geht zu ihrer Mutter.
» Salut, Maman.«
Ihre Maman lächelt müde. Ihre Haare sind wirr, die Strümpfe passen nicht zusammen. Man hat ihr die Stirn verbunden, ihr linker Arm hängt an einem Tropf. Sie trägt das Krankenhausnachthemd verkehrt herum und hat es nicht richtig zugebunden. Es gibt den Blick auf ihren Bauch frei, und Pari kann die dicke, dunkle Kaiserschnittnarbe sehen. Sie hat ihre Maman vor einigen Jahren gefragt, warum der Schnitt nicht wie üblich horizontal gesetzt worden ist, und ihre Maman hatte erklärt, man habe ihr damals eine komplizierte Begründung gegeben, an die sie sich nicht mehr erinnern könne. Wichtig war nur, sagte sie, dass du dann da warst .
»Ich habe dir den Abend verdorben«, murmelt ihre Maman.
»Halb so wild. Ich bringe dich jetzt nach Hause.«
»Ich könnte eine Woche durchschlafen.«
Ihre Augen fallen langsam zu, und sie spricht träge und stockend weiter. »Ich saß vor dem Fernseher. Ich hatte Hunger. Ich wollte Brot und Marmelade aus der Küche holen. Ich bin ausgerutscht. Ich weiß nicht, wie oder worauf, aber ich bin mit dem Kopf gegen den Griff der Ofentür geknallt. Gut möglich, dass ich kurz bewusstlos war. Setz dich, Pari. Du ragst so hoch über mir auf.«
Pari setzt sich. »Der Arzt meint, du hättest getrunken.«
Ihre Maman blinzelt widerwillig. Die Häufigkeit ihrer Besuche bei Ärzten wird nur von ihrem Widerwillen gegen diese übertroffen. »Das Bürschchen? Das hat er behauptet? Le petit salaud . Was weiß der schon? Sein Atem riecht noch nach Muttermilch.«
»Du machst immer einen Witz daraus. Jedes Mal, wenn ich es anspreche.«
»Ich bin müde, Pari. Lass es ein anderes Mal an mir aus. Was bringt es, wenn du mich an den Pranger stellst?«
Jetzt schläft sie tatsächlich ein. Schnarcht so laut wie nur nach zu viel Alkohol.
Pari sitzt auf dem Stuhl neben dem Bett und wartet auf Dr. Delaunay, stellt sich vor, wie Julien im selben Moment mit der Speisekarte in der Hand an einem dämmrigen Restauranttisch sitzt und Christian und Aurélie die ganze Sache bei einem großen Glas Bordeaux erklärt. Er hat halbherzig angeboten, sie ins Krankenhaus zu begleiten. Aus Pflichtgefühl. Es wäre sowieso nicht gut gewesen, wenn er mitgekommen wäre. Wenn Dr. Delaunay glaubte, er hätte hier großes Theater erlebt … Pari hätte es trotzdem besser gefunden, wenn Julien nicht allein gefahren wäre. Es wundert sie, dass er das getan hat. Er hätte es Christian und Aurélie erklären und sie hätten einen anderen Abend finden und neu reservieren können. Aber Julien ist hingefahren. Und das nicht gedankenlos. Nein. Seine Entscheidung war irgendwie bewusst und gemein. Pari weiß seit längerem, dass er dazu imstande ist. Und sie fragt sich neuerdings, ob er das genießt.
Ihre Maman hatte Julien in einer ganz ähnlichen Notaufnahme wie dieser kennengelernt. Vor zehn Jahren, 1963, als Pari vierzehn war. Julien hatte einen Kollegen ins Krankenhaus gebracht, der an Migräne litt. Und ihre Mutter hatte Pari ins Krankenhaus gebracht, weil sie sich im Sportunterricht böse den Knöchel verstaucht hatte. Sie lag auf einer Krankentrage, als Julien seinen Stuhl ins Zimmer stellte und ihre Maman in ein Gespräch verwickelte. Pari weiß nicht mehr, was die beiden geredet haben. Sie weiß nur noch, dass Julien fragte: »Paris? Wie die Stadt?« Und dass ihre Mutter wie so oft antwortete: »Nein, ohne s. Das ist Farsi und heißt ›Fee‹.«
Im späteren Verlauf der Woche trafen sie sich mit ihm zum Essen in einem kleinen Bistro in einer Nebenstraße des Boulevard Saint-Germain. Paris Maman hatte zu Hause lange überlegt, was sie anziehen sollte, und sich
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