Traumschlange
die schließlich nickten.
»Stavin«, flüsterte er. Weder hatte er die Kraft noch den Atem zum Sprechen. »Ich bin Schlange, Stavin, und in kurzer Frist, am Morgen, muß ich dir weh tun. Du wirst einen kurzen Schmerz verspüren, und dein Körper wird noch einige Tage lang schmerzen, aber danach wird es dir besser gehen.« Er starrte sie mit ernstem Blick an. Schlange sah, daß er verstand und sich vor dem fürchtete, was sie tun wollte, aber seine Furcht war geringer, als wenn sie ihn belogen hätte. Der Schmerz mußte sich sehr verstärkt haben, während seine Krankheit offenkundiger wurde, doch wie es schien, hatten andere ihn bloß zu ermutigen versucht und gehofft, das Leiden werde weichen oder ihn schnell töten.
Schlange setzte Gras auf das Kissen des Knaben und zog ihre Lederschachtel näher heran. Mit flinken Handgriffen öffnete sie das Schloß. Die Erwachsenen konnten noch immer nicht anders als sie fürchten; sie hatten bisher weder die Zeit dazu gehabt noch genug Vernunft aufgebracht, um zu ihr Vertrauen zu fassen.
Die Frau war alt genug, um womöglich nie wieder ein Kind zu bekommen, und Schlange bemerkte an den Augen der Eltern, ihrem verhohlenen Kummer und ihrer Besorgnis, daß sie dieses Kind sehr liebten. Um sich in diesem Land an Schlange zu wenden, mußten sie es sehr lieben.
Es war Abend, und es wurde kühl. Träge glitt Sand aus der Schachtel, bewegte den Kopf, bewegte die Zunge, roch, schmeckte, gewahrte die Wärme von Körpern.
»Ist das...?« Die Stimme des älteren Ehemannes klang leise und klug, aber auch furchtsam, und Sand spürte die Furcht. Er zog sich in Bißstellung zurück und ließ verhalten seine Klapper ertönen. Schlange sprach ihn an und streckte ihren Arm aus. Die Grubenotter entspannte sich und schlang sich in vielen Windungen um ihr zierliches Handgelenk, bildete schwarze und lohfarbene Armreifen.
»Nein«, sagte sie. »Euer Kind ist zu krank, Sand kann ihm nicht helfen. Ich weiß, daß es schwer ist, aber bitte versucht ruhig zu bleiben. Dies ist eine furchtbare Sache für euch, aber sie ist das einzige, was ich tun kann.« Sie mußte Dunst aufscheuchen, um sie herauszulocken. Schlange klopfte auf die Schachtel und schubste sie schließlich zweimal. Dann spürte Schlange das Scharren und Gleiten von Schuppen, und plötzlich warf sich die Albinokobra ins Zelt. Sie kroch schnell, und doch schien sie kein Ende zu besitzen. Sie krümmte sich und bäumte sich empor. Ihr Atem entwich mit einem Zischen. Ihr Kopf erhob sich um einen guten Meter über den Boden. Sie blähte ihre weite Kapuze. Hinter ihr keuchten die Erwachsenen auf, als fühlten sie sich durch den Blick der auffälligen braunen Zeichnung auf dem Rücken der Kapuze körperlich angegriffen. Schlange beachtete die Leute nicht und wandte sich mit Singsangstimme an die große Kobra. »Ach, Sie! Zorniges Geschöpf. Sie lege sich hin. Diesmal muß Sie sich Ihr Spanferkel verdienen. Spreche Sie zu diesem Kind, berühre Sie‘s! Es heißt Stavin.«
Langsam ließ Dunst ihre Kapuze schrumpfen und duldete es, daß Schlange sie berührte. Schlange ergriff sie fest hinterm Kopf und hielt ihn in Stavins Richtung. Die silbernen Augen der Kobra fingen das Gelb des Lampenscheins ein.
»Stavin«, sagte Schlange, »Dunst soll dich jetzt nur kennenlernen. Ich verspreche dir, daß sie dir jetzt keinen Schmerz zufügt.«
Trotzdem zitterte Stavin, als Dunst seine magere Brust berührte. Schlange gab den Kopf der Kobra nicht frei, ließ jedoch ihren Leib am Körper des Jungen entlanggleiten.
Sie wand sich in Krümmungen aus purem Weiß über Stavins geschwollenen Unterleib, streckte sich, drängte ihren Kopf hinauf zum Gesicht des Jungen, stemmte sich gegen Schlanges Hände. Die Kobra war viermal länger als Stavins Körper. Dunst begegnete Stavins furchterfülltem Blick mit dem Starren lidloser Augen. Schlange ließ sie ein wenig näher heran. Dunst züngelte, um das Kind zu betasten. Der jüngere Ehemann stieß einen leisen, erstickten Laut der Furcht aus. Stavin zuckte daraufhin zusammen, und Dunst wich zurück, öffnete ihr Maul, entblößte die Fangzähne und fauchte vernehmlich den Atem aus dem Rachen. Schlange kauerte sich auf die Fersen und entließ den eigenen Atem. An anderen Orten konnten die Verwandten manchmal ihrer Tätigkeit beiwohnen.
»Ihr müßt gehen«, sagte sie leise. »Es ist gefährlich, Dunst zu erschrecken.«
»Ich werde nicht...«
»Ich bedaure es, aber ihr müßt draußen warten.«
Der jüngere
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