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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Ehemann hätte vielleicht die üblichen unhaltbaren Einwände erhoben und die beantwortbaren Fragen gestellt, vielleicht auch die Frau, aber der ältere Mann drehte sie zum Ausgang, nahm ihre Hände und führte sie hinaus.
    »Ich benötige ein kleines Tier«, sagte Schlange, als der Mann die Zeltklappe hob. »Es muß Fell haben, und ich brauche es lebend.«
    »Wir werden eines finden«, sagte er, und die drei Eltern traten hinaus in den düsteren Abend. Schlange konnte von draußen ihre Schritte im Sand hören.
    Schlange zog die Kobra in ihren Schoß und beruhigte sie. Die Kobra wand sich um Schlanges schmale Hüften und genoß ihre Wärme. Hunger machte sie noch gereizter als gewöhnlich, und sie war hungrig, genau wie Schlange. Auf dem Weg durch den schwarzen Sand der Wüste hatten sie genug Wasser entdeckt, aber Schlanges Fallen waren leer geblieben. Es war Sommer, heißes Wetter herrschte, und viele der pelzigen Leckerbissen, die Dunst und Sand bevorzugten, hielten ihren Sommerschlaf. Wenn es den Schlangen an regelmäßigen Mahlzeiten mangelte, begann Schlange ebenfalls zu fasten. Betrübt sah sie, daß Stavin sich nun stärker fürchtete.
    »Es tut mir leid, daß ich deine Eltern fortschicken mußte«, sagte sie. »Sie dürfen bald zurückkommen.«
    Seine Augen glitzerten, aber er hielt die Tränen zurück. »Sie haben gesagt, daß ich tun soll, was du von mir willst.«
    »Es wäre mir lieber, wenn du weinst, falls du das kannst«, sagte Schlange. »Weinen ist wirklich nicht so schlimm.«
    Doch anscheinend begriff Stavin sie nicht, und Schlange verzichtete darauf, ihn zu drängen; sie wußte, daß sein Volk die Menschen lehrte, sich einem harten Land zu widersetzen, indem sie dem Weinen entsagten, sich weigerten zu klagen, sich weigerten zu lachen. Sie verboten sich Kummer und erlaubten sich wenig Freude, aber sie überlebten.
    Dunst hatte sich beruhigt und tat nun trotzig. Schlange löste sie von ihren Hüften und legte sie auf den Strohsack neben Stavin. Als die Kobra sich wieder regte, lenkte Schlange ihren Kopf; sie spürte die Anspannung der Kiefermuskeln.
    »Sie wird dich mit ihrer Zunge berühren«, sagte sie zu Stavin. »Vielleicht kitzelt es, aber es schmerzt nicht. Sie riecht damit, so wie du mit deiner Nase.«
    »Mit ihrer Zunge?«
    Schlange nickte, und Dunst ließ ihre Zunge hervorzucken, um sie über Stavins Wange zu streichen. Stavin fuhr nicht auf, er sah ihr zu; für einen Moment überwand seine kindliche Freude am Entdecken seine Pein. Er lag völlig reglos, während die lange Zunge über seine Wangen glitt, seine Augen, seinen Mund.
    »Sie riecht die Krankheit«, sagte Schlange.
    Dunst hörte auf, sich gegen den Druck ihres Griffs zu sträuben und zog ihren Kopf zurück. Schlange hockte sich auf die Fersen und ließ die Kobra los, die sich daraufhin an ihrem Arm emporwand und sich um ihre Schultern legte.
    »Schlafe, Stavin«, sagte Schlange. »Versuche mir zu vertrauen. Und versuche, dich nicht vor dem Morgen zu fürchten.«
    Stavin musterte sie einige Sekunden lang und forschte in Schlanges hellen Augen nach Wahrhaftigkeit.
    »Wird Gras aufpassen?«
    Die Frage verblüffte sie; oder vielmehr war es die Bereitwilligkeit, die hinter der
    Frage stand. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn und lächelte ein Lächeln, das dicht unter der Oberfläche von Tränen schwamm. »Natürlich.« Sie hob Gras auf. »Er wird über dieses Kind wachen und es beschützen.« Die Traumschlange lag bewegungslos in ihrer Hand; die Augen glitzerten
    schwarz. Behutsam bettete sie Gras auf Stavins Kissen.
    »Schlaf nun.«
    Stavin schloß die Augen, und das Leben schien aus ihm zu fliehen. Der Unterschied war so kraß, daß Schlange bereits den Arm hob, um ihn abzutasten, doch dann sah sie, daß er atmete, langsam und flach atmete. Sie deckte ihn zu und stand auf. Die plötzliche Haltungsänderung verursachte ihr ein Schwindelgefühl; sie wankte und fing sich wieder. Auf ihren Schultern spannten sich die Muskeln von Dunst. Schlanges Augen brannten, ihr Blick war scharf, von fiebriger Klarheit. Das Geräusch, das sie zu hören vermeinte, rückte stürmisch näher. Sie sammelte Widerstandskraft gegen Hunger und Erschöpfung, bückte sich langsam und nahm die Lederschachtel. Dunst berührte ihre Wange mit ihrer Zungenspitze. Sie schob die Zeltklappe beiseite und empfand darüber Erleichterung, daß noch Nacht herrschte. Die Hitze vermochte sie auszuhalten, aber der grelle Sonnenschein durchdrang sie, versengte sie. Es

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