Traumschlange
nicht gebissen?«
»Nein«, bekräftigte der Mann. Seine beherrschte Stimme konnte die Ehrfurcht nicht ganz verhehlen. »Du müßtest im Sterben liegen. Du müßtest dich vor Schmerzen krümmen, dein Arm müßte blaurot angeschwollen sein. Als du zurückgekommen bist...« Er wies auf ihre Hand. »Es muß eine Sandnatter gewesen sein.«
Schlange erinnerte sich an das Reptiliennest unter den Zweigen und berührte das Blut an ihrer Hand. Sie wischte es ab und entdeckte zwischen den von Dornen verursachten Kratzern die Wunde eines Schlangenbisses. Die Wunde war leicht geschwollen.
»Ich muß den Biß säubern«, sagte sie. »Ich schäme mich, weil ich mich habe erwischen lassen.«
Der Schmerz drang in schwachen Wellen in ihren Arm, toste nicht länger. Sie stand auf und blickte den jungen Mann an, schaute rundum, sah die Landschaft wanken und schwanken, während ihre müden Augen das kärgliche Licht des sinkenden Mondes und einer unechten Dämmerung zu durchdringen versuchten.
»Du hast Dunst gut und mit Tapferkeit beaufsichtigt«, sagte sie zu dem jungen Mann. »Ich danke dir.«
Er senkte den Blick, neigte beinahe das Haupt vor ihr. Er richtete sich auf und trat näher. Sanft legte Schlange ihre Hand auf den Hals der Kobra, damit sie sich nicht wieder erregen möge.
»Ich würde mich geehrt fühlen«, sagte der junge Mann, »wenn du mich Arevin nennst.«
»Das werde ich mit Freude tun.«
Schlange kniete nieder und stützte die Windungen des Leibes, als Dunst langsam in ihr Fach im Innern der Lederschachtel kroch. In kurzer Zeit, sobald sich Dunst erholt hatte, wenn der Morgen dämmerte, konnten sie Stavin aufsuchen. Die weiße Schwanzspitze der Kobra verschwand im Behältnis. Schlange schloß es und wollte sich aufrichten, aber sie vermochte nicht zu stehen. Sie hatte die Wirkung des Giftes noch nicht völlig überwunden. Das Fleisch rund um die Bißwunde war rot und weich, aber der Bluterguß würde sich nicht ausweiten. Sie verblieb in ihrer zusammengesunkenen Stellung, starrte ihre Hand an und näherte sich in Gedanken langsam dem, das sie tun mußte; diesmal für sich selbst.
»Laß mich dir helfen. Bitte.« Er nahm sie bei der Schulter und half ihr beim Erheben.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich brauche so dringend Erholung...«
»Erlaube mir, deine Hand zu waschen«, sagte Arevin. »Und dann kannst du schlafen. Sage mir, wann ich dich wecken...«
»Nein. Ich kann noch nicht schlafen.« Sie zerrte das Netzwerk ihrer Nerven zurecht, riß sich zusammen, straffte sich, warf die feuchten Locken ihres kurzen Haars aus der Stirn.
»Es geht mir jetzt besser. Hast du Wasser?«
Arevin öffnete sein Gewand. Darunter trug er ein Lendentuch und einen Ledergürtel mit mehreren Flaschen und Beuteln daran. Die Hautfarbe seines Körpers war etwas heller als die dunkle Sonnenbräune seines Gesichts. Er löste seine Feldflasche vom Gürtel, schloß das Gewand wieder um seine sehnige Gestalt und wollte Schlanges Hand nehmen.
»Nein, Arevin. Falls Gift in einen winzigen Kratzer gerät, den du haben könntest, würdest du es bitter bereuen.«
Sie setzte sich nieder und schüttete lauwarmes Wasser über ihre Hand. Das Wasser tropfte rosa verfärbt auf den Untergrund und versickerte, hinterließ nicht einmal einen feuchten Fleck. Die Verletzung blutete noch ein wenig mehr, aber danach schmerzte sie bloß noch. Das Gift war fast unwirksam geworden.
»Ich begreife nicht, wie es möglich ist, daß du unversehrt bleibst«, sagte Arevin. »Meine jüngere Schwester ist von einer Sandnatter gebissen worden.« Er konnte nicht so gleichmütig sprechen, wie er es vielleicht beabsichtigte. »Wir vermochten nichts zu tun, um sie zu retten – nicht einmal etwas, um ihren Schmerz zu lindern.«
Schlange gab ihm seine Feldflasche zurück, entnahm ihrer Gürteltasche ein Fläschchen und schmierte daraus Salbe auf die Einstiche, die sich nun schlossen.
»Das ist Bestandteil unserer Grundausbildung«, antwortete sie. »Wir arbeiten mit vielen Arten von Schlangen, also müssen wir gegen so viele wie möglich immun sein.« Sie zuckte mit den Achseln. »Das Verfahren ist langwierig und etwas schmerzhaft.« Sie ballte die Hand zur Faust; die Salbenschicht hielt. Sie war beruhigt.
Indem sie sich hinüber zu Arevin beugte, befühlte sie nochmals seine mißhandelte Wange. »Ja...« Sie verstrich darauf eine dünne Schicht der Salbe. »Das wird die Heilung fördern.«
»Wenn du nicht schlafen darfst«, meinte Arevin, »kannst du dich
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