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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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drückte Kummer, Bedauern und zugleich Verwirrung aus, und Schlange konnte nicht feststellen, was er dachte. Er blickte sich um. Stavins Mutter stand dicht hinter ihm. Er nahm sie bei der Schulter. »Er wäre ohne sie gestorben. Was nunmehr auch geschehen sein mag, er wäre ohne sie gestorben.«
    Die Frau schüttelte seine Hand ab. »Vielleicht hätte er überlebt. Vielleicht wäre es weggegangen. Wir...« Sie konnte nicht weiterreden, weil sie Tränen unterdrükken mußte.
    Schlange nahm die Bewegung der Menschen wahr, als sie sie umstellten. Arevin tat einen Schritt auf sie zu, dann blieb er stehen, und sie sah ihm an, daß er wünschte, sie möge sich selbst rechtfertigen.
    »Kann irgend jemand von euch weinen?« fragte sie. »Kann jemand unter euch um meinetwillen und meiner Verzweiflung willen weinen..., oder um sie und ihre Schuld..., oder um kleine Geschöpfe und ihren Schmerz?«
    Sie fühlte Tränen über ihre Wangen rinnen. Aber sie verstanden sie nicht; ihr Weinen ärgerte sie lediglich. Sie wichen zurück, noch immer voller Furcht vor ihr, doch sie faßten sich allmählich. Schlange bedurfte nicht länger der ruhigen Haltung, die vonnöten gewesen war, um das Kind zum Mitmachen zu veranlassen.
    »Ach, ihr Narren.« Ihre Stimme klang brüchig. »Stavin...«
    Vom Eingang fiel Licht herein. »Laßt mich durch.«
    Die Leute vor Schlange rückten beiseite, um ihr Oberhaupt vortreten zu lassen. Die Frau verharrte vor Schlange, ohne die Schachtel zu beachten, die sie fast mit dem Fuß berührte.
    »Wird Stavin leben?« Ihre Stimme war ruhig, leise, sanft.
    »Ich kann es nicht mit Gewißheit sagen«, antwortete Schlange, »aber ich habe das Gefühl, daß er es schafft.«
    »Geht hinaus.« Die Umstehenden verstanden Schlanges Auskunft, ehe die Anweisung ihres Oberhauptes erscholl; sie blickten sich untereinander an, senkten ihre Waffen und verließen schließlich das Zelt, einer nach dem anderen. Arevin blieb. Schlange spürte, wie die Kräfte, die aus dem Bewußtsein der Gefahr erwachsen waren, von ihr wichen. Ihre Knie knickten ein. Sie lehnte sich, das Gesicht in den Händen, über die Schachtel. Die ältere Frau kniete vor ihr nieder, bevor Schlange es bemerken oder verhindern konnte.
    »Danke«, sagte sie. »Danke. Es stimmt mich so traurig...« Sie legte ihre Arme um Schlange und drückte sie an sich; Arevin kniete sich ebenfalls hin, und auch er umarmte Schlange. Erneut begann Schlange zu zittern, und sie hielten sie in ihrer Umarmung, während sie weinte.
    Dennoch schlief sie, im Zelt mit Stavin allein und in völliger Erschöpfung; im Schlaf hielt sie seine Hand. Man hatte ihr Essen gebracht, kleine Tiere für Sand und Dunst, Vorräte für ihre Weiterreise und sogar genug Wasser für ein Bad, obwohl letzteres ihren Wasserbestand sehr beanspruchen mußte. Doch um so etwas machte sich Schlange nicht länger Gedanken. Nach dem Aufwachen befühlte sie den Tumor und stellte fest, daß er zu schrumpfen und sich zu zersetzen begonnen hatte; durch das modifizierte Gift der Kobra starb er ab. Schlanges Freude blieb gering. Sie strich Stavins helles Haar aus seiner Stirn.
    »Ich möchte dich nicht nochmals belügen, mein Kleiner«, sagte sie. »Ich muß bald fort. Hier kann ich nicht bleiben.«
    Sie hätte sich gerne noch drei Tage lang ausgeschlafen, um den Kampf gegen die Folgen des Schlangengiftes in Ruhe zu beenden, aber sie wollte lieber woanders schlafen.
    »Stavin?«
    Er erwachte langsam und nur halb.
    »Es tut nicht länger weh«, sagte er. »Da bin ich aber froh.«
    »Ich danke dir...«
    »Leb wohl, Stavin. Wirst du dich später daran erinnern, daß du aufgewacht bist und gesehen hast, daß ich geblieben bin, um mich von dir zu verabschieden?«
    »Leb wohl«, sagte er und begann wieder zu dösen. »Leb wohl, Schlange. Leb wohl, Gras.« Er schloß seine Augen, und Schlange nahm ihre Schachtel und verließ das Zelt. Die Dämmerung erzeugte lange, ungewisse Schatten; das Zeltlager war still. Sie fand ihr getigertes Pony angekoppelt vor, versorgt mit Futter und Wasser. Neben dem Sattel lagen am Boden prall gefüllte Wasserschläuche. Das Tigerpony wieherte, als sie sich näherte. Sie kraulte es hinter den gestreiften Ohren, sattelte es und schnallte die Schachtel auf seinen Rücken. Am Zügel führte sie es nach Westen, in die Richtung, woher sie kam.
    »Schlange...«
    Sie atmete tief ein und sah sich nach Arevin um. Er stand, mit dem Gesicht zur Sonne, und ihr Schein machte es rotwangig, sein Gewand

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