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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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wenigstens ausruhen?«
    »Ja«, entgegnete sie. »Für ein Weilchen.«
    Schlange setzte sich neben Arevin und lehnte sich an ihn, und sie sahen zu, wie die Sonne die Wolken in Gold, Bernstein und Feuer verwandelte. Die bloße körperliche Nähe eines anderen Menschen bereitete Schlange Wohlbehagen, doch sie empfand es als unbefriedigend. Zu anderer Zeit und an einem anderen Ort hätte sie mehr unternommen, aber nicht hier, nicht jetzt.
    Als der untere Rand des hellen Flecks, in dessen Gestalt die Sonne erschien, sich über den Horizont erhob, stand Schlange auf und lockte Dunst aus der Schachtel. Sie kroch langsam heraus, noch satt; sie erklomm Schlanges Schultern. Schlange nahm die Schachtel, und sie und Arevin schritten gemeinsam zurück zu der kleinen Ansammlung von Zelten.
     
    Stavins Eltern warteten unmittelbar vor dem Eingang ihres Zeltes und schauten ihr entgegen. Sie standen in enger Traube schweigsam beisammen, wie zur Abwehr. Im ersten Moment glaubte Schlange, sie hätten beschlossen, sie fortzuschicken. Dann fragte sie – mit Kummer und Furcht wie heißes Eisen in ihrem Mund –, ob Stavin gestorben sei. Sie schüttelten die Köpfe und ließen sie eintreten.
    Stavin lag noch so, wie sie ihn verlassen hatte, und schlief. Die Erwachsenen folgten ihr mit unverwandten Blicken, und sie konnte Furcht riechen. Dunst züngelte; die Möglichkeit von Gefahr versetzte sie in Unruhe.
    »Ich wußte, ihr würdet bleiben«, sagte Schlange. »Ich weiß auch, daß ihr mir helfen würdet, aber es kann niemand etwas tun außer mir. Bitte geht wieder hinaus.«
    Sie sahen einander an und dann Arevin, und einen Moment lang glaubte sie, daß es zu einer Weigerung käme. Am liebsten wäre Schlange in Schweigen versunken und eingeschlafen.
    »Kommt, Anverwandte«, sagte Arevin. »Wir sind in ihrer Hand.«
    Er schlug die Zeltklappe zur Seite und winkte sie hinaus. Schlange dankte ihm nur durch einen Blick, und fast schien es, als neige er zu einem Lächeln.
    Sie wandte sich Stavin zu und kniete sich neben ihn. »Stavin...«
    Sie berührte seine Stirn; sie war sehr heiß. Ihre Hand, so bemerkte sie, war weniger sicher als noch vorhin. Die leichte Berührung weckte das Kind.
    »Es ist soweit«, sagte Schlange.
    Stavin blinzelte, löste sich aus einem kindlichen Traum, sah sie, erkannte sie langsam. Er wirkte nicht furchtsam. Schlange war froh; aus einem anderen Anlaß jedoch, den sie nicht begriff, empfand sie Unbehagen.
    »Tut es weh?«
    »Hast du gegenwärtig Schmerzen?«
    Er zögerte, blickte weg, sah sie wieder an. »Ja.«
    »Vielleicht schmerzt es noch ein bißchen mehr. Ich hoffe, es kommt nicht so. Bist du bereit?«
    »Kann Gras bei mir bleiben?«
    »Natürlich«, sagte sie. Und erkannte, was nicht stimmte. »Ich bin gleich wieder hier.« Ihre Stimme veränderte sich so auffällig, klang plötzlich so gepreßt, daß das Kind sich unvermeidlich ängstigte. Sie verließ das Zelt, ging langsam, ruhig, bot alle Selbstbeherrschung auf. Die Eltern, die draußen standen, bezeugten diesmal ihre Furcht sogar mit den Mienen.
    »Wo ist Gras?«
    Arevin, der ihr den Rücken zukehrte, fuhr beim Tonfall ihrer Stimme herum. Der jüngere Ehemann stieß einen leisen Klagelaut aus und vermochte sie nicht länger anzusehen.
    »Wir hatten Furcht«, sagte der ältere Ehemann. »Wir dachten, das Tier wollte das Kind beißen.«
    »Ich dachte es. Ich habe es getan. Die Schlange kroch über sein Gesicht, ich konnte ihre Zähne sehen...« Die Frau legte ihre Hände auf die Schultern ihres jüngeren Gatten, und er sprach nicht weiter.
    »Wo ist er?« Sie wollte schreien; sie tat es nicht.
    Sie brachten ihr eine kleine offene Kiste. Schlange nahm sie und blickte hinein. Gras lag darin, nahezu zertrennt, die Eingeweide waren aus dem Leib gequollen; er lag halb auf dem Rücken, und während sie zitterte und in die Kiste starrte, wand er sich einmal und ließ die Zunge einmal hinaus-und hineingleiten. Schlange gab einen Laut von sich, der zu tief in ihrer Kehle entstand, um ein Schluchzen werden zu können. Sie hoffte, daß es sich nur um Reflexe handelte, aber sie hob ihn so behutsam auf wie möglich. Sie senkte den Kopf und schloß ihre Lippen um die glatten grünen Schuppen hinter seinem Kopf. An der Schädelbasis biß sie einmal schnell und fest zu. Sein Blut rann kühl und salzig in ihren Mund. Falls er nicht tot gewesen war, hatte sie ihn augenblicklich getötet.
    Sie sah die Eltern und Arevin an; sie alle waren blaß, aber ihre Furcht fand nicht

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