Traveblut
bestimmt schon warteten. Als er aufstand, fiel sein Blick auf die oberste Mappe in seiner Ablage. Ein Einbruch in einem Bürogebäude in der Fackenburger Allee. Die Geschichte lag bereits einige Monate zurück und war mehr als hoffnungslos. Eigentlich hätte der Fall von den Kollegen vom Kommissariat für Raub, Körperverletzungsdelikte und Diebstahlsdelikte bearbeitet werden müssen. Weil es bei dem Einbruch jedoch zu einem kleineren Brand gekommen war, waren die Ermittlungen im Kommissariat für Tötungsdelikte, Todes- und Brandermittlungen und Vermisste hängen geblieben.
Um ihrer Pflicht nachzukommen, besuchten sie das betroffene Unternehmen in regelmäßigen Abständen und gaben vor, mehreren Spuren nachzugehen. Tatsächlich hatten sie vor Kurzem verwertbare DNA-Spuren an einem am Tatort gefundenen Stück Stoff sicherstellen können. Allerdings sah es nicht danach aus, als ob sie den genetischen Fingerabdruck, den das Labor erstellt hatte, jemals jemandem würden zuordnen können. Deshalb hatte sich Andresen eine neue Taktik überlegt, die den Fall möglicherweise in eine andere Richtung lenken würde. Am Nachmittag wollte er dem Geschäftsführer des Unternehmens, einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, einen weiteren Besuch abstatten.
Als er das Besprechungszimmer betrat, herrschte eine angespannte Stimmung, die sich in Form von hektischer Betriebsamkeit entlud. Jemand stieß ihn versehentlich an, sodass er die Hälfte seines Kaffees verschüttete. Es war Kriminalkommissar Ben Kregel, einer von Andresens engsten Vertrauten.
»Sorry, Birger. Aber gut, dass du endlich da bist.«
»Guten Morgen, Ben. Klärst du mich kurz auf, was los ist?«
»Sag bloß, du weißt es noch nicht?«
»Doch, aber nicht –«
»Heute in den frühen Morgenstunden wurde schon wieder eine Wasserleiche im Klughafen gefunden«, unterbrach ihn Kregel. »Fast an derselben Stelle wie letzte Woche. Wieder eine Frau.«
Andresen nickte und runzelte die Stirn. Bei dem ersten Leichenfund vor zehn Tagen hatten sie einen tragischen Unfall nicht ausschließen können. Sie warteten noch immer auf den abschließenden Obduktionsbericht. Ein zweiter Leichenfund an nahezu identischer Stelle warf jedoch ein völlig anderes Licht auf die Sache.
Er vernahm ein Räuspern und drehte sich um. Hinter ihm stand Frank Sibius, der allen Anwesenden mit einer Handbewegung bedeutete, Platz zu nehmen.
Dass Sibius noch immer Leiter der Mordkommission war, hatte er seiner freiwilligen Rücktrittsankündigung zum Sommer zu verdanken. So war er einem Disziplinarverfahren und dem wahrscheinlichen Rausschmiss nach seiner wenig rühmlichen Rolle in einem Fall im vergangenen Jahr zuvorgekommen. Damals hatte er die Ermittlungen massiv behindert, indem er wichtige Informationen vorenthalten und mit der wichtigsten Zeugin ein heimliches Verhältnis gehabt hatte.
»Morgen«, begann Sibius. »Von einem guten Morgen kann leider keine Rede sein. Wie ihr wahrscheinlich bereits wisst, ist heute erneut eine Wasserleiche in der Kanaltrave gefunden worden. Die zweite innerhalb weniger Tage. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass beide Todesfälle in irgendeiner Weise in Zusammenhang stehen.«
»Heißt das, wir nehmen jetzt offiziell die Ermittlungen auf?«, fragte Kregel.
»Ja«, antwortete Sibius. »Wir können nicht ausschließen, dass die Frauen einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind.«
»Birnbaum hat bislang nichts in diese Richtung erwähnt«, warf Andresen ein. »Wieso sind wir uns jetzt plötzlich sicher, dass Brigitte Jochimsens Tod nicht doch ein Unfall gewesen ist?«
»Zu viele Gemeinsamkeiten«, erklärte Hauptkommissarin Ida-Marie Berg. Obwohl sie mittlerweile schon fast ein Jahr zum Team gehörte, haftete an ihr noch immer das Image der »Neuen«. Mit ihrer offenen, gelegentlich schroffen Art eckte sie ein ums andere Mal bei ihren Kollegen an.
Andresens Gedanken drifteten ab. Er und Ida-Marie hatten eine sonderbare Beziehung zueinander. Vom ersten Moment an war da dieses Knistern zwischen ihnen gewesen. Sie warf sich mal auf direkte, mal auf subtile Art und Weise an ihn heran, ohne dass es jemals tatsächlich zu einer körperlichen Annäherung gekommen wäre. Und obwohl er glücklich mit Wiebke liiert war, ließ er die Flirterei zu. Manchmal forcierte er sie sogar, wenn er herausfinden wollte, wie weit er tatsächlich gehen konnte. Es war, als gäbe es eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen, die sie zu ihrem Selbstschutz voneinander trennte. Manchmal
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