Traveblut
Schläuche angeschlossen und erstversorgt. Es schien, als hätte sie das Ganze überlebt. Wenige Minuten später raste der Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn davon. Andresen beobachtete die Szenerie, während er sich langsam hochrappelte.
Es war tatsächlich vorbei. Aber zu welchem Preis? Jimmy Vosberg war tot und Gisela Sachs schwer verletzt. Hätte es nicht andersherum sein müssen?
Andresen schüttelte den Kopf und entfernte sich unauffällig vom Geschehen. Eilig ging er die Dankwartsgrube in Richtung Pferdemarkt hinauf. Er wollte endlich das tun, was er schon seit Tagen vor sich herschob. Mit Wiebke telefonieren. Und schlafen.
32
Am späten Samstagnachmittag wartete Andresen am Bahnsteig auf den Regionalexpress aus Kiel. Seine Knochen schmerzten noch immer, und sein Kopf brummte wie nach einer durchzechten Nacht. Die Ermittlungen und die Festnahme von Gisela Sachs hatten ihm alles abverlangt.
In wenigen Minuten würde Wiebke mit den Kindern und Hund Timmi aus dem Zug aussteigen, und alles, was in den vergangenen Tagen passiert war, wäre von einem Moment auf den anderen vergessen.
Er hatte sich für den Weg des geringeren Widerstands entschieden. Im Klartext: Er war zu feige, Wiebke seinen Ausrutscher mit Ida-Marie zu beichten. Obwohl er sich sicher war, dass ihn das schlechte Gewissen plagen würde, empfand er Schweigen als die bessere Wahl, wenn ihre Beziehung Bestand haben sollte. Wiebke war eine Frau mit Prinzipien, und bei all ihrer Offenheit gab es Grenzen. Und diese hatte er längst überschritten.
Als er Wiebke endlich wieder im Arm halten konnte, wurde ihm noch einmal bewusst, was er mit seinem Verhalten aufs Spiel gesetzt hatte. Er drückte sie, so fest er konnte, an sich und ließ sie erst wieder los, als Marlene ungeduldig an seinem Hosenbein zog.
Den Sonntagvormittag verbrachten sie in Brodten, um die letzten Vorbereitungen vor dem Umzug zu treffen. Das Haus war einzugsbereit und wartete nur darauf, mit Leben gefüllt zu werden. Während Andresen durch die leeren Zimmer ging und mit bloßem Auge Maß nahm, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass er sich eines Tages hier in diesem umgebauten Bauernhaus wohlfühlen könnte. Zwar sehnte er sich schon jetzt nach dem Trubel in der Stadt, aber der Gedanke an kalte Wintertage vor dem Kamin und einsame Spaziergänge entlang der Steilküste gefiel ihm.
Als er allein im ersten Stock stand und durch das kleine Fenster auf die Ostsee blickte, spürte er, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, das Haus in der Großen Gröpelgrube zu verkaufen.
Auch Ole war mitgekommen. Er wollte sich ein Bild davon machen, wie das neue Leben seines Vaters auf dem Land begann. Ein Leben, nach dem sich Andresen zwar immer gesehnt hatte, das aber so gar nicht zu ihm zu passen schien.
Während er durch das Fenster einer auslaufenden Fähre hinterhersah, überkam ihn ein Gefühl der absoluten Ruhe. Hier sollte er also wohnen. Womöglich bis an sein Lebensende. Noch immer fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, für jede Besorgung das Auto zu benutzen und auf die abendlichen Abstecher in Lübecks Kneipen zu verzichten. Doch die Nähe zum Meer und die Einsamkeit fühlten sich von Minute zu Minute besser an.
Plötzlich knarzte die Treppe. Andresen wandte sich um, und im nächsten Augenblick stand Ole vor ihm.
»Na, wie gefällt es dir?«, fragte Andresen leise.
Ole lächelte seinen Vater an und schüttelte den Kopf.
»Etwa nicht?«
»Ist deine Frage wirklich ernst gemeint?«, vergewisserte sich Ole.
»Ja, natürlich.«
»Das Haus ist ein Traum.«
Andresen sah seinen Sohn überrascht an. Er hatte eine andere Reaktion erwartet.
»Das heißt, du hast kein Problem damit, dass ich unser Haus verkauft habe?«
»Nein«, antwortete Ole. »Meine Erinnerungen sind sowieso nicht die besten.«
»Ja, das verstehe ich.«
»Was würdest du eigentlich dazu sagen, wenn ich wieder bei dir einziehe?«, fragte Ole mit einem Mal.
Andresen traute seinen Ohren nicht. Was hatte sein Sohn da gerade gesagt?
»Ist die zweite Etage eigentlich auch ausgebaut?«
»Ja, natürlich«, stammelte Andresen. »Meinst du das wirklich ernst? Und was ist mit Chrissy?«
Ole senkte seinen Blick und zuckte mit den Schultern.
»Stimmt etwas nicht?«
»Wir haben uns ziemlich heftig gestritten. Aber das wird schon wieder. Sie ist nicht der Grund, warum ich frage.«
»Sondern?«
»Es bringt ja alles nichts«, seufzte Ole. »Ich muss es dir sagen.«
»Was?«
»Ich bin pleite und habe
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