Traveler - Roman
selbst, wie sie des Nachts vor einem Haus stand und durch ein Fenster Gabriel und seine Frau bei den Vorbereitungen für das Abendessen beobachtete. Harlequin. Blut an den Händen. Halt dich fern.
Sie wusch ihr Haar, zog den Bademantel an, der im Schrank gehangen hatte, und schlich durch den Flur ins Schlafzimmer. Gabriel saß auf dem Bett der Empore, welche die halbe Breite des Wohnzimmers einnahm. Ein paar Minuten später stand er abrupt auf, und sie hörte ihn fluchen. Eine Weile herrschte
Stille, dann knackten die Stufen der Holzleiter, als er hinunterstieg, um ebenfalls ein Bad zu nehmen.
Kurz vor Sonnenuntergang holte sie ein blaues Trägerhemd und einen knöchellangen Baumwollrock aus ihrem Kleidersack. Als sie sich angezogen im Spiegel betrachtete, war sie mit dem Anblick zufrieden. Wie normal sie doch aussah – sie hätte eine Freundin von Gabriel aus Los Angeles sein können. Dann zog sie den Rock hoch und schnallte die beiden Messer an ihren Unterschenkeln fest. Die anderen Waffen waren unter der Patchworkdecke auf ihrem Bett verborgen.
Sie ging in das im Halbdunkel liegende Wohnzimmer. Gabriel stand am Fenster und spähte durch einen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen. »Zwanzig Meter den Abhang hoch versteckt sich jemand und beobachtet uns«, sagte er.
»Vermutlich Antonio Cardenas oder ein Freund von ihm.«
»Und was tun wir dagegen?«
»Nichts. Wir machen uns jetzt auf die Suche nach einem gelben Haus.«
Maya versuchte, entspannt zu wirken, als sie erneut die Straße entlanggingen, aber sie war sich nicht sicher, ob ihnen jemand folgte. Die Luft war noch warm, und die Kiefern sahen aus, als hätte jede von ihnen ein kleines Stück Dunkelheit eingefangen. In der Nähe einer der Brücken entdeckten sie ein großes gelbes Gebäude. Auf der Dachterrasse brannten Öllampen, und man hörte von dort Stimmengemurmel.
Sie betraten das Haus und sahen einen langen Esstisch, an dem acht Kinder unterschiedlichen Alters zu Abend aßen. In der Küche war eine kleine Frau mit rotem Kraushaar zugange. Sie trug einen Jeansrock und ein mit einer rot durchgestrichenen Überwachungskamera bedrucktes T-Shirt. Es war das Symbol der Gegner des Systems. Maya hatte es schon einmal auf der Tanzfläche einer Berliner Diskothek und an einer Wand im Madrider Stadtteil Malasaña gesehen.
Die Frau kam, einen Löffel in der Hand, zu ihnen, um sie zu begrüßen. »Ich bin Rebecca Greenwald. Willkommen in unserem Haus.«
Gabriel lächelte und deutete auf die Kinder. »Ganz schön was los bei Ihnen.«
»Ja, aber nur zwei von den Kindern sind unsere. Heute essen auch die drei von Antonio hier, ebenso Joan Chens Tochter Alice und noch zwei Freunde aus anderen Familien. Die Kinder hier in der Gemeinschaft essen ständig irgendwo anders. Nach dem ersten Jahr mussten wir eine Regel aufstellen: Jedes Kind muss bis vier Uhr nachmittags mindestens zwei Erwachsenen gesagt haben, wo es abends sein wird. Na ja, so lautet die Regel, aber manchmal bricht trotzdem das Chaos aus. Letzte Woche haben wir Pflastersteine gebrannt, und hinterher waren sieben völlig verdreckte Kinder hier und außerdem drei halbwüchsige Jungs, die jeder für zwei gefuttert haben. Ich musste Unmengen von Spaghetti kochen.«
»Ist Martin …«
»Mein Mann ist oben auf dem Dach, zusammen mit den anderen. Die Treppe ist draußen. Ich komme in ein paar Minuten nach.«
Sie gingen durch das Esszimmer in einen ummauerten Garten. Als sie die Stufen der Außentreppe hinaufstiegen, hörte Maya, dass oben hitzig diskutiert wurde.
»Denk auch an die Kinder hier in der Gemeinschaft, Martin. Wir müssen sie schützen.«
»Ich denke aber auch an all die Kinder auf der Welt, die nicht bei uns aufwachsen und denen von der Maschine nur Furcht, Gier und Hass beigebracht wird …«
Das Gespräch verstummte in dem Moment, als Maya und Gabriel auftauchten. Martin, Antonio und Joan saßen um einen Holztisch, auf dem Öllampen brannten.
»Noch einmal herzlich willkommen«, sagte Martin. »Nehmen Sie doch Platz, bitte.«
Maya eruierte rasch, aus welcher Richtung am ehesten ein Angriff erfolgen könnte, und setzte sich neben Joan Chen. Von dort aus sah sie jeden, der die Treppe heraufkam. Martin kümmerte sich beflissen darum, ihnen Besteck zu geben und zwei Gläser Wein aus einer Flasche ohne Etikett einzuschenken.
»Das ist ein Merlot direkt vom Winzer«, erklärte er. »Als bei uns der Gedanke an einen Ort wie New Harmony aufkam, fragte mich Rebecca, was ich
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