Traveler - Roman
selbst einreden, dass die Umstände es erfordern. Ich hätte wahrscheinlich mein Leben lang im selben Trott weitergemacht, aber dann passierte etwas. Ich unternahm eine Geschäftsreise nach Virginia – es war schrecklich. Meine neuen Kunden kamen mir wie gierige Kinder ohne jedes Verantwortungsgefühl vor. Während unseres Treffens schlug ich ihnen spontan vor, ein Prozent ihres Einkommens Wohltätigkeitsorganisationen in ihrer Heimatstadt zu spenden, woraufhin man mich als unprofessionell abkanzelte.
Danach kam es noch schlimmer. Am Flughafen von Washington liefen wegen irgendeines Alarms Hunderte von Polizisten herum. Ich wurde beim Einchecken zweimal durchsucht
und erlebte mit, wie ein Mann im Wartebereich einen Herzanfall erlitt. Mein Flug hatte sechs Stunden Verspätung. Ich verbrachte die Zeit damit, mich in der Flughafenbar zu betrinken und auf den Fernseher über dem Tresen zu starren. Nichts als Tod und Zerstörung. Verbrechen. Umweltverschmutzung. Jede Nachrichtensendung suggerierte mir, ich müsste vor allem Möglichen Angst haben. Jeder Werbespot vermittelte mir, ich müsste Dinge kaufen, die ich nicht brauchte. Die Botschaft lautete, dass für Menschen nur die Rolle als duldsames Opfer oder als Konsument vorgesehen war.
Bei meiner Rückkehr nach Houston war es dort knapp fünfundvierzig Grad heiß, bei neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Ich setzte mich in meinen Wagen, um nach Hause zu fahren, aber mitten auf dem Highway streikte plötzlich der Motor. Natürlich hielt niemand an. Niemand wollte mir helfen. Ich weiß noch, wie ich aus dem Wagen stieg und hinauf in den Himmel schaute. Wegen der schmutzigen Luft hatte er eine bräunliche Farbe. Überall Müll. Um mich herum der Verkehrslärm. Mir wurde klar, dass wir keinen Gedanken daran zu verschwenden brauchten, ob wir nach dem Tod in die Hölle kommen, denn wir hatten schon eine Hölle auf Erden geschaffen.
Aber dann geschah es. Ein Pick-up hielt an, und ein Mann stieg aus. Er war etwa in meinem Alter, trug Jeans und ein Arbeitshemd, und in den Händen hielt er eine antik aussehende Keramikschale ohne Henkel, die zu einer japanischen Teezeremonie gepasst hätte. Er kam auf mich zu, stellte sich aber nicht vor und fragte auch nicht, was mit meinem Auto los sei. Er sah mir in die Augen, und ich hatte das Gefühl, als würde er mich kennen, als wüsste er, was ich in dem Moment empfand. Dann hielt er mir die Schale hin und sagte: ›Hier ist Wasser. Sie haben bestimmt Durst.‹
Ich trank das Wasser. Es war kühl und schmeckte gut. Der Mann öffnete die Motorhaube meines Wagens und hatte das
Problem nach ein paar Minuten beseitigt. Also, normalerweise hätte ich dem Mann ein paar Dollar gegeben und wäre weitergefahren, aber das fand ich irgendwie unpassend, deshalb lud ich ihn zum Abendessen zu uns nach Hause ein. Zwanzig Minuten später waren wir dort.«
Rebecca schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich dachte, Martin habe völlig den Verstand verloren. Er hatte einen Mann auf dem Highway kennen gelernt, und jetzt aß dieser Fremde mit uns und unseren Kindern zu Abend. Zuerst glaubte ich, er sei ein Obdachloser. Vielleicht sogar ein Verbrecher. Als wir mit dem Essen fertig waren, räumte er den Tisch ab und fing an abzuwaschen. Martin brachte die Kinder ins Bett, und ich war mit dem Fremden allein. Er fragte mich, wie es mir gehe, und aus irgendeinem Grund schüttete ich ihm mein Herz aus. Ich erzählte, dass ich unglücklich sei. Dass ich mir um meinen Mann und meine Kinder Sorgen mache. Dass ich ohne Schlaftabletten nicht mehr einschlafen könne.«
»Unser Gast war ein Traveler«, fuhr Martin fort und sah Gabriel und Maya an. »Ich weiß nicht, wie viel Sie über die Fähigkeiten dieser Menschen wissen.«
»Erzählen Sie mir bitte so viel wie möglich«, sagte Gabriel.
»Traveler haben diese Welt verlassen und sind zurückgekehrt«, erklärte Martin. »Sie haben auf alles eine andere Sichtweise.«
»Weil sie außerhalb des Gefängnisses waren, in dem wir leben, sehen Traveler die Dinge klarer«, fügte Antonio hinzu. »Darum haben die Tabula Angst vor ihnen. Die Tabula wollen uns glauben machen, dass es keine Alternative zum System gibt.«
»Anfangs war der Traveler eher wortkarg«, sagte Rebecca. »Aber wir hatten in seiner Gegenwart das Gefühl, als könnte er uns ins Herz schauen.«
»Ich nahm mir drei Tage frei«, sagte Martin. »Rebecca und ich redeten viel mit ihm, versuchten zu erklären, wie wir in unsere
Situation geraten waren. Nach
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