Traveler - Roman
wohl den Eindruck der Abenddämmerung in Paris hervorrufen sollte. Touristen schlenderten über Kopfsteinpflasterstraßen zu Blackjack-Tischen und langen Reihen einarmiger Banditen.
Maya ging auf dem Las Vegas Boulevard zu einem anderen Hotel und sah, wie Gondolieri Touristen einen Kanal entlangruderten, der nirgendwohin führte. Obwohl jedes Hotel ein anderes Motto hatte, waren sie im Grunde genommen alle gleich. In keinem der Kasinos gab es Fenster oder Uhren. Man sollte das Gefühl von Raum und Zeit verlieren. Als Maya einen weiteren dieser Paläste betrat, nahm sie durch ihren ausgeprägten Gleichgewichtssinn etwas wahr, das den meisten Touristen niemals auffallen würde. Der Boden war ganz leicht geneigt, sodass die Schwerkraft die Besucher unmerklich vom Hotelbereich ins Kasino zog.
Die meisten Menschen liebten Las Vegas, weil sie sich dort betrinken, spielen und fremden Frauen beim Striptease zuschauen konnten. Aber diese Vergnügungsstadt war eine dreidimensionale Illusion. Man wurde ständig von Überwachungskameras beobachtet. Computerprogramme werteten das Geschehen an den Automaten und Spieltischen aus, und eine ganze Armee aus Wachmännern, alle mit einer amerikanischen Flagge am Ärmel ihrer Uniform, achtete darauf, dass niemals etwas wirklich Ungewöhnliches passierte. Las Vegas
entsprach genau dem Ideal der Tabula: scheinbare Freiheit, hinter der in Wahrheit totale Kontrolle stand.
In einer solchen, streng reglementierten Umgebung würde es schwierig sein, den Feind auszutricksen. Maya hatte von klein auf gelernt, wie man sich dem System entzog, aber nun musste es ihr gelingen, absichtlich dessen Aufmerksamkeit zu erregen und trotzdem zu entkommen. Die Tabula-Computer suchten das System garantiert nach verschiedenen Daten ab – unter anderem nach Transaktionen mit Michaels Kreditkarte. Sollte die Karte als gestohlen gemeldet sein, dann würde Maya es womöglich mit Sicherheitsmännern zu tun bekommen, die keine Ahnung hatten, was die Tabula war. Harlequins kämpften nur ungern gegen Bürger oder Drohnen, aber manchmal war es nötig, um selbst zu überleben.
Nachdem Maya sämtliche Hotels am Boulevard in Augenschein genommen hatte, entschied sie sich für das New-York-New-York-Hotel, weil es die besten Fluchtmöglichkeiten bot. Sie fuhr in ein Geschäft der Heilsarmee, wo sie sich zwei alte Koffer und getragene Männerkleidung besorgte. Außerdem erwarb sie ein Necessaire und steckte eine Dose Rasierschaum, eine halb volle Tube Zahnpasta und eine Zahnbürste hinein, mit deren Borsten sie vorher über den Betonboden vor ihrer Blockhütte gerieben hatte. Das letzte Detail war das wichtigste: Straßenkarten mit Bleistiftmarkierungen, die auf eine geplante Fahrt von Los Angeles quer durchs Land bis nach New York hindeuteten.
Gabriel hatte seine Motorradmontur im Lieferwagen gelassen. Maya zog die Jacke und die Handschuhe an und setzte den Helm auf. Es kam ihr so vor, als wäre sie von Gabriels Haut, von seiner Gegenwart umhüllt. Maya hatte in London einen Motorroller besessen, aber das war kein Vergleich zu der schweren, PS-starken Moto Guzzi. Sie hatte Probleme mit dem Lenken, und jedes Mal, wenn sie schaltete, ertönte ein knirschendes Geräusch.
Am frühen Abend stellte sie das Motorrad auf dem Parkplatz des New-York-New-York-Hotels ab und reservierte von einem öffentlichen Fernsprecher aus eine Suite. Zwanzig Minuten später betrat sie mit den beiden Koffern den gewaltigen Innenhof des Hotels und ging zur Rezeption.
»Mein Mann hat bei Ihnen ein Zimmer reserviert«, sagte sie zu dem Angestellten hinter dem Tresen. »Er kommt in ein paar Stunden mit dem Flugzeug nach.«
Der Hotelangestellte war ein muskulöser junger Mann mit kurz geschorenem, blondem Haar. »Es freut mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen«, sagte er und bat um ihren Ausweis.
Sie gab ihm den gefälschten Pass und Michael Corrigans Kreditkarte. Eine Zahlenkombination wurde von dem Terminal an der Rezeption in einen Zentralcomputer und von dort in einen Großrechner irgendwo auf der Welt übertragen. Maya ließ den Hotelangestellten nicht aus den Augen, hielt nach einer Regung in seinem Gesicht Ausschau, falls die Meldung Karte gestohlen auf seinem Bildschirm erscheinen sollte. Sie war innerlich darauf vorbereitet zu lügen, wegzurennen oder, wenn nötig, zu töten – doch der Angestelle reichte ihr lächelnd eine Keycard. Als Maya den Fahrstuhl betrat, musste sie die Karte in einen Schlitz stecken und auf den Knopf mit
Weitere Kostenlose Bücher