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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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geschlagen, obwohl er etliche Schritt von ihr entfernt stand, und wurde von einem Augenblick zum anderen kreidebleich, stürzte ebenfalls und blieb röchelnd und zitternd liegen wie ein gestrandeter Fisch. Die Hand immer noch erhoben, wandte er sich an Ishajid und den Vermummten.
    Ihr erster Schwertstreich hatte sein Gewand durchdrungen und von oben bis unten aufgeschlitzt, offenbar ohne ihn zu verwunden. Er schien gewandter zu sein, als sie ihm zugetraut hatte. Eine erbarmungslose Wildheit lag auf ihrem Gesicht, als sie ihren nächsten Hieb führte, der dem Gegner den Schädel spalten sollte. Abwehrend streckte Tommelians Bruder die behandschuhte Hand aus, griff in die Klinge und hielt sie fest. Ishajid riß ihr Schwert herunter und zog es ihm in seiner gesamten Länge durch die Hand. Der Schnitt hätte ihn die Hand kosten müssen oder wenigstens einige Finger, doch kein einziger Tropfen Blut spritzte, nur der Handschuh wurde zerfetzt. Abermals schlug sie zu, wieder faßte die Hand achtlos in die Klinge, zerrte daran und entriß sie Ishajid so leicht, als wäre sie ein Hund. In hohem Bogen flog das Schwert durch die Luft, auf Scheïjian zu. Er duckte sich blitzschnell und hörte es hinter sich gegen die Wand schlagen.
    Unterdessen hatte der Vermummte Ishajids Handgelenk gepackt, während sie mit ihrer freien Hand in sein Gesicht gefahren war. Sie krallte die Hand in den Schleier und riß ihn herunter. Spitze Schreckenslaute drangen aus ihrer Kehle, als sie sah, was sich unter dem Schleier verbarg: Das Gesicht war dem Tommelians nicht unähnlich, jedoch glatter mit härteren Konturen. Das war nicht verwunderlich, denn es bestand weder aus Haut noch aus Fleisch, sondern aus weißgrau gebändertem starren Stein. Keinem toten, sondern lebendigem Stein.
    Ein Gargyl! schoß es Scheïjian durch den Kopf. Eine lebendig gewordene Statue! Er ließ die zum Zauber erhobene Hand sinken. Ishajid helfen zu wollen, war sinnlos, denn der Körper dieses Wesens war fast unzerstörbar, und Gargyle waren bekanntlich nahezu immun gegen jegliche Art von Magie. Mit einem galligen Beigeschmack dachte er daran, woher er sein Wissen hatte. Tarrad hatte ihm von Gargylen erzählt, am Vormittag jenes Tages, als er versucht hatte, ihn zu töten. Hätte er seinem Lehrer nur einen Tag mehr Zeit gegeben, so hätte er jetzt vielleicht gewußt, was zu tun war.
    Verzweifelt suchte er sich in Erinnerung zu bringen, was ihm sein Lehrmeister damals erzählt hatte. Aber war diese Kreatur überhaupt ein Gargyl? Gargyle waren dumm, doch dieser Riese hatte Klugheit bewiesen, hatte sich wie ein Mensch benommen, und Tommelian bezeichnete ihn als seinen Bruder. Die Anrede schien wörtlich gemeint zu sein, also hatte der Steinerne einst den Körper eines Menschen besessen, hatte ihn getauscht und war jetzt die Seele eines Menschen in einem Körper aus Stein, ein Bastard, ein Menschengargyl. Seine Existenz war eine Verletzung der Regeln, nach denen Rur die Welt geschaffen hatte und nach denen Boron, Tsa und die anderen Diener des Zwillingsgottes sie verwalteten. Sie war ein Triumph der Lästerlichkeit, der Ishajid in wilde Panik versetzte.
    »Wer ist die weinende Fürstin?« drängte der Steinerne, ihr Handgelenk fester umklammernd und mitleidslos zerquetschend. Wimmernd und mit weitaufgerissenen Augen verriet Ishajid: »Jergan, die Tränenreiche, die Fürstenstadt!«
    »Die Heilige?« fragte er weiter. Auch wenn sie es gewollt hätte, so hätte sie es nicht über die Lippen gebracht, denn ihre Zähne klapperten so sehr, daß kein verständliches Wort aus ihrem Mund kam. Er quetschte fester, bis Blut in seinen Ärmel lief, und berührte mit seinem Gesicht das ihre. »Wer ist die Heilige?«
    »Boran, unser Boran!« antwortete Ishajid schrill.
    Er fragte sie nicht mehr nach Tuzak, der Königsstadt, deren Wappen die purpurne Lilie Maraskans war, sondern kam gleich zum Wesentlichen: »Wo liegt der Ort in der Mitte?«
    »Im Gebirge, ein Berg, der Amran Thjemen!« kreischte sie, verstummte jäh, sank in sich zusammen und hing leblos in seiner Hand wie ein erlegtes Stück Wild. Er ließ sie fallen, drehte sich, stieß die Kartenrolle mit dem Fuß zu Scheïjian und riß sich die Reste des Umhangs vom Körper. Darunter war er nackt, nackter Stein, der sich wider alle Vernunft bewegte.
    Er starrte Scheïjian mit mattschimmernden Augen an, die statt Pupillen und Iris nur kleine Löcher hatten, den Mund leicht geöffnet, unnatürlich vollkommene Zahnreihen

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